Prolog

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Die Weltwirtschaftskrise hat uns in die völlige Armut getrieben. Wir hatten schon davor nicht viel auf dem Konto, doch als wir beide unsere Arbeitsstellen verloren, gerieten wir an das Existenzminimum. Ab diesem Moment waren auch wir in die Schicht der Arbeitslosen integriert, welche seit der Krise von einer Million auf über sechs Millionen Menschen angestiegen war.

Vielen Menschen ging es zu dieser Zeit schlecht. Einige Leute mussten Hunger leiden, darunter auch wir. Ich hätte alles getan, um meinen Kindern jeden Tag eine warme Mahlzeit zubereiten zu können. Doch in den letzten Tagen hatte es gerade mal für Brot und etwas Milch gereicht.

Mein Mann und ich verzichteten seit Wochen auf die ein oder andere Mahlzeit und dennoch konnte ich sehen, wie meine Kinder litten Ihre Augen verloren den kindlichen Glanz und Traurigkeit breitete sich darin aus. Doch am meisten schmerzte mich der Gedanke, nichts an der aktuellen Lage ändern zu können.

Wir mussten fünf hungrige Kindermäuler stopfen und einen Säugling ernähren. Was bereits nicht einfach gewesen war, als wir beide noch einen Job hatten. Wir benötigten dringend Hilfe, egal in welcher Form. Doch der Reichskanzler der Weimarer Republik kümmerte sich nicht um die einfachen Leute.

Nicht nur die Regierung war an unserer aktuellen Lage schuld. Die massive Überproduktion von Gütern führte zum Preisverfall. Die Produktionskosten überstiegen die Verkaufspreise, was dazu führte, dass viele Firmen von der Bildfläche verschwanden.

Ich merkte, wie sich die unregelmäßigen Mahlzeiten auf meinen Körper auswirkten. Die einzelnen Muskelstränge und Knochen traten mittlerweile deutlich unter meiner Haut hervor. Meine Lider wurden über den Tag hinweg immer schwerer, ich war antriebslos und schlapp. An manchen Tagen musste ich mich regelrecht zwingen, aus dem Bett zu steigen.

Es war ein verregneter Dienstagmorgen, als jemand an unserer Türe klopfte. Er bot uns einen Ausweg an.

Es war weder ein neuer Job noch eine Hilfe von dem deutschen Staat.

Der Regen prasselte wie wild gegen die Scheibe, als wolle er uns vor dem Mann, der unser Haus betreten hatte, warnen. Als wolle er uns wachrütteln und uns dazu bewegen, den Mann aus unserem Haus zu geleiten.

Allein das Erscheinungsbild des Mannes war angsteinflößend. Er trug einen dunklen Regenmantel, der ihm fast zu den Knöcheln reichte. Als er diesen Mantel im Haus öffnete, erhaschte ich einen Blick auf seinen ebenfalls schwarzen Anzug. Der Mann hatte ein hartes Gesicht, das so aussah, als hätte er noch nie im Leben gelacht. Er hatte einen dezenten Schnauzer und trug eine kreisrunde Brille auf der Nase. Meine Augen blieben an seiner Nase hängen, die einen leichten Knick nach links machte, vermutlich wurde diese einmal gebrochen und ist nie richtig verheilt.

Er sagte uns, dass er von einer Geheimorganisation komme, deren Namen er uns zu unserem eigenen Schutz nicht nennen konnte, dass es sogar verboten sei, darüber zu sprechen. Er machte uns ein Angebot, das mich erschaudern ließ. Mir kam es so vor, als würde mir das Blut in den Adern gefrieren und meinen Körper versteifen.

Wir sollten ihm eines unserer Kinder überlassen, um die anderen vor dem Verhungern zu bewahren. Empört wiesen wir den Mann ab. Wie konnte er uns so ein abscheuliches Angebot machen? Der Mann überreichte uns dennoch ein Flugblatt, bevor er unsere Einfahrt wieder verließ. Auf dem Flugblatt war eine Adresse vermerkt, bei der man sich bei Interesse erscheinen solle.. Das war keine Option für mich und mein Ehemann teilte meine Meinung.

Aber eigentlich war es egal was ich dachte. Denn die Meinung einer Frau zählte für Männer nichts. Mein Mann hatte bei uns im Haus das Sagen, so wie es sich eben gehörte. Er verdiente das Geld, ich hingegen verbrachte die meiste Zeit mit unseren Kindern oder stand vor dem Herd und kochte für die ganze Familie.

Da das Geld schon nach der Geburt unseres fünften Kindes, Mathilda, knapp war, ging ich spät am Abend zu einer wohlhabenden Familie, um dort das Haus sauber zu halten. Meine Arbeit unterbrach ich nur für ein paar Wochen, um mich von der Geburt meiner dritten Tochter zu erholen.

Die Situation in unserem Haus wurde immer schlimmer. Zwar hatte ich mich gut von der Entbindung erholt, doch merkte ich, dass meine Kräfte nicht ausreichten. Meine Muttermilch war zu schwach, um ein Neugeborenes zu ernähren. Frieda erkrankte zwei Monate.

nach ihrer Geburt an der Englischen Krankheit und starb wenige Tage nachdem die Krankheit ausgebrochen war.

Der Tod meines geliebten Kindes riss mir den Boden unter den Füßen weg. Friedrich, mein Ehemann, nahm das Flugblatt aus der Küchenschublade und las es sich durch. Er kam zu dem Entschluss unsere älteste Tochter der Geheimorganisation zu übergeben, um das Überleben von unseren anderen Kindern zu sichern. Ich protestierte über seinen Entschluss, er nahm mich jedoch kaum wahr. Meine Hand, die ich um seinen Unterarm geschlungen hatte, um ihn dazu zu bewegen mich anzuhören, schüttelte er mit Leichtigkeit ab.

Johanna konnte nicht verstehen, was passierte. Warum ich in der Küche stand und am ganzen Körper zitterte. Mir liefen die Tränen wie ein Wasserfall aus den Augen. Ich gab ihr einen letzten Kuss. Friedrich hob sie auf seine Arme und verschwand aus der Haustür. Ich stand da, rührte mich nicht und verstand immer noch nicht, was gerade passiert war.

Am 18.10.1929 sah ich Johanna das letzte Mal. Ihr Haar hatte ich wie immer zu einem Zopf zusammengebunden. Sie trug ihre besten Kleider, die jedoch auch schon erste Gebrauchsspuren zeigten. Sie war gerade mal zehn Jahre alt, als mein Mann sie mir wegnahm. Ich hatte nicht die Gelegenheit sehen zu können, wie sie vor meinen Augen zu einer jungen und wunderschönen Frau wurde.

Ein paar Stunden später kam Friedrich ohne unsere Tochter zurück. Ich hatte doch noch ein Fünkchen Hoffnung in mir, dass sie gar nicht mehr an unserer Tochter interessiert waren. Dieser Funken war nun erloschen und mich überkam eine eisige Kälte, wie ich sie zuvor noch nie erlebt hatte. Es war, als hätte mein Ehemann einen Teil von meinem Herzen mitgenommen, den ich schmerzhaft zu vermissen begann.

Diese Entscheidung änderte unser ganzes Leben. Zum einen hatten wir wieder ausreichend zu essen, zum anderem hat es jedoch auch unsere Familie zerstört. Ich konnte meinem Mann nicht mehr in die Augen schauen ohne an Johanna zu denken. Vielleicht war es nicht direkt Hass, was ich für ihn empfand, aber ich verabscheute ihn für das, was er getan hatte.

Ich betete jeden Abend zu Gott, dass er unsere Tochter beschützen möge. Jetzt, da ich sie nicht mehr im Arm halten durfte. Nicht mehr ihre Haare flechten konnte und ihr fröhliches Lachen nicht mehr durch die Wände drang. Ich vermisste sie an jedem einzelnen Tag. Mein Herz wurde Tag für Tag schwerer. Doch ich musste stark bleiben. Die anderen vier Kinder brauchten schließlich ihre Mutter. 

Die Insel der stillen TränenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt