Kapitel 9

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Annie

Ich werde wach gerüttelt und öffne verschlafen die Augen. "Was ist los?" Ich sehe meinen Vater, er sieht blass und verängstigt aus. "Steh auf wir müssen los." Ich richte mich auf und will den Mund öffnen als meine Mutter mir das Wort abschneidet. "Beeil dich Annie. Ich weis das es mitten in der Nacht ist aber wir müssen los. Sofort!"
Es ist die Dringlichkeit vermischt mit Panik die mich dazu bringt meine Decke in Rekordzeit zusammenzufalten, mir die Kleider von Vortag überzuwerfen und meine wenigen Habseligkeiten in einen alten, schwarzen, Rucksack zu stopfen.
Ich ziehe meine robusten schwarzen Stiefel an und stehe in weniger als zwei Minuten Aufbruch bereit vor meinen Eltern.
Mein Vater öffnet die Tür und schaut vorsichtig hinaus, offenbar kann er keine Gefahr ausmachen denn er schleicht nach draußen. Ich folge ihm und lege eine Hand auf seinen Rücken, direkt hinter mir ist meine Mutter die ebenfalls ihre Hand auf meine Schulter gelegt hat.

Mein Vater dreht sich zu mir um und sagt leise: "Ihr geht schon mal vor ich muss noch ein paar Dinge holen dann komme ich nach."
Meine Mutter geht an mir vorbei und umarmt ihn dann übernimmt sie die Führung und ich folge ihr durch die Dunkelheit.
Ich weis nicht wie lange wir schweigend durch die nächtliche Landschaft gegangen sind, ich weis schon lange nicht mehr wo wir sind. Doch meine Mutter läuft so zielstrebig durch die Dunkelheit, als wäre es taghell.
Wo ist mein Vater?
Was wollte er noch holen?
Wieso gehen wir mitten in der Nacht nach draußen?
Ich habe gelernt das das das dümmste ist was man tun kann.

Jeder diese Fragen würde ich gerne laut herausbrüllen. So lange stehen bleiben bis ich eine Antwort erhalte, aber ich weis das ich wenn ich jetzt laut bin uns beide verrate.
Ebenso gibt es nur eine Regel wenn man nachts draußen ist und zwar:
Bleib immer in Bewegung!
Und plötzlich ohne Vorwarnung beginnt meine Mutter zu Rennen.
Ich stolpere und falle hin, als ich mich wieder aufgerappelt habe ist meine Mutter bereits verschwunden.

Ich bleibe ganz still stehen in der Hoffnung das ich sie vielleicht rennen höre, aber ich höre nichts.
Ich spüre Panik in mir hochkriechen.
Was ist passiert?
Wieso ist sie plötzlich losgerannt?
Wurde sie angegriffen?
Hat sie jemanden bemerkt und wollte denjenigen von mir ablenken?

Ich weis nicht was ich tun soll, also tue ich das einzige was mir im Moment möglich ist: Ich laufe weiter.
Ich fühle mich wie ein Roboter während ich ohne jegliche Orientierung durch die Dunkelheit gehe.
Und mit jedem Schritt denn ich gehe wächst die Verzweiflung in mir.

Und dann höre ich es.
Der verzweifelte Schmerzensschrei einer Frau.
Ich bleibe ruckartig stehen und renne dann ebenso ruckartig los in der Richtung aus der der Schrei gekommen ist.
Meine Füße trampeln hart auf den Boden, ich gebe mir keine Mühe mehr leise zu sein.
Und dann bleibt mein Fuß an etwas hängen und ich fliege der Länge nach auf den Boden. Ich Rappel mich auf und sehe mich um, dann Taste ich auf dem Boden herum um das zu finden über was ich gestolpert bin.
Meine Hand erstarrt als ich ein pfeifendes atmen höre und eine leise Stimme die meinem Namen krächzt.
"Mama?" Meine Stimme ist dünn und leise. "Annie. Hör mir zu. Es ist wichtig du musst zu deinen Großeltern. Wenn dein Vater noch lebt kommt er dorthin. Deine Großeltern wissen Bescheid, sie werden dir alles erklären. Geh jetzt."
Ihre Stimme bricht und meine tastende Hand hat endlich gefunden was ich gesucht habe. "Mama? Was ist los? Wieso kommst du nicht mit?"
Ich höre sie röchelnd einatmen und in dem Moment als sie mir antwortet ertastet meine Hand auf ihrem Bauch etwas nasses. Blut.
Nein.
Ich keuche laut auf und meine Mutter sagt leise: "Es ist vorbei. Du musst ohne mich gehen. Die Wunde ist zu groß. Ich schaffe es nicht, aber für dich gibt es noch Hoffnung." Ich spüre wie mir die Tränen über das Gesicht laufen und ich weis das ich nicht gehen kann. "Mama ich weis doch gar nicht in welche Richtung ich muss, außerdem kann ich dich nicht alleine lassen." Ich höre den Atem meiner Mutter immer unregelmäßiger und flacher werden. "Du musst jetzt gehen. Es müsste in ein paar Stunden hell werden, Lauf einfach geradeaus dann müsstest du auf den Highway kommen von dort aus findest du den Weg. Und jetzt geh! Für mich gibt es keine Hoffnung mehr." Ich schluchze leise und als meine Mutter mein Handgelenk packt und mit letzter Kraft ein schwaches "Rette dich kleine." Herausbringt und ihre Hand schlaff herunterfällt lege ich den Kopf auf ihre Brust und suche nach ihrem Herzschlag.
Ich höre nichts.
Meine Mutter ist tot.
Nein!
Das kann nicht sein.
Und dann stehe ich auf und renne.
Ich weiß das ich das niemals vergessen werde.
Die Tränen wo mir über das Gesicht laufen hätten mich gestört wenn ich etwas sehen würde, aber da es stockdunkel ist macht es mir nichts aus.

Irgend wann treffen meine Füße auf Asphalt und ich bleibe einen Moment stehen und hole tief Luft, dann renne ich weiter.
Ich merke wie ich mit jedem Schritt hoffnungsloser werde.
Meine Mutter ist Tod.
Mein Vater ist irgendwo.
Ich bin allein.
Es ist dunkel.
Und dann fangen die Geräusche an.
Ein rascheln, ein knacken.
Ich will gerade losschreien als ich mir im letzten Moment geistesgegenwärtig eine Hand auf den Mund schlage.
Dann erstarre ich bis ich begreife das das das dümmste ich was ich jetzt tun könnte stehen bleiben ist. Also gehe ich weiter, jetzt achte ich darauf das meine Schritte leise sind, ebenso achte ich auf die Geräusche um mich herum. Weiter rechts von mir höre ich ein brutales Knurren kurz darauf einen dumpfen Knall und einen unmenschlichen Schmerzensschrei.

Ich muss hier weg.

So leise wie möglich renne ich los aber ich weis das ich zu laut bin und dann ohne Vorwarnung spüre ich eine Hand die meinen Nacken packt und mich brutal nach hinten reist.
Ich will mich losmachen aber der Griff ist zu stark. Jemand rammt mir ein Knie in den Rücken und ich gehe zu Boden. Als ich hart auf dem Asphalt Aufschlage spüre ich wie mir die Luft aus der Lunge gepresst wird.
Doch im nächsten Moment werde ich bereits wieder hochgerissen und jemand verdreht meine Hände auf dem Rücken, dann werde ich unsanft gepackt und jemand schiebt mich grob vorwärts.
Panik erstickt meine Stimme, ich kann nicht um Hilfe schreien.
Und dann spüre ich die Hilflosigkeit. Ich bin allein, meine Hände sind bewegungsunfähig.
Und schließlich spüre ich die Wut. Soll meine Mutter umsonst gestorben sein?
Die Antwort auf diese frage ist eifach: Nein!
Mit einem Ruck bleibe ich stehen und derjenige der mich gepackt hat rennt in mich rein. Wir gehen beide zu Boden. Ich rolle mich herum so dass ich auf demjenigen liege und Ramme ihm meine Faust ohne zu zögern in das Gesicht. Er stöhnt leise vor Schmerz und ich springe auf und renne.

Ich weis nicht wie viel Zeit vergangen ist aber als es endlich hell wird, würde ich am liebsten anfangen zu jubeln.
Allerdings bin ich mir sehr wohl im Klaren das ich es noch lange nicht geschafft habe.
Ich habe immer noch einen weiten Weg vor mir und ich bin immer noch allein.
Ich habe weder etwas zu essen, noch eine Waffe.
Ich werde einen Blick auf meine Hände und erstarre.
Sie sind bedeckt mit getrocknetem Blut. Das Blut meiner Mutter!
Nein!
Ich will mir das Blut abwaschen, aber ich weiß das in der Nähe kein Fluss ist, also schaue ich stur geradeaus und setzte mich weiter in Bewegung.

Als ein paar Stunden später die Sonne unendlich warm auf mich hinunterbrennt verfluche ich stumm alles, weil ich kein Wasser habe.
Ich werde unter der erbarmungslosen Sonne langsamer und merke auch die Müdigkeit die mich übermannt.
Dann Reiße ich mich zusammen und werde wieder schneller.
Wenn du im Wald bist ist es nicht mehr so warm, tröste ich mich und versuche gleichzeitig mich anzuspornen schneller zu laufen.
Ich begegne niemandem worüber ich im Moment unendlich froh bin als ich endlich an Rande des Waldes ankomme huscht ein kleines Lächeln über mein Gesicht. Allerdings hält das nicht lange an, als meine Gedanken zu meinen Eltern wandern.
Was ist mit meinem Vater passiert?
Ich zwinge mich dazu an etwas anderes zu denken in konzentriere mich auf den Weg vor mir.
Ich höre das zwitschern der Vogel in fahre mit meiner trockenen Zunge über meine spröden Lippen.
Ich kann nicht mehr.
Aber mein Kopf hat auf Autopilot geschaltet und meine Füße bewegen mich mechanisch und mein Kopf ist leer.
Endlich sehe ich das kleine Haus und nehme ein letztes Mal meine Kräfte zusammen und renne auf die Tür zu, ich hämmere gegen die Tür und als sie nur Sekunden später geöffnet wird Fälle ich meiner besorgt aussehenden Großmutter schluchzend in die Arme.
Sie zieht mich sanft in das Hausinnere, schließt die Tür hinter mir und führt mich dann zum Sofa. Sie stellt mir keine Fragen wofür ich ihr unendlich dankbar bin, sie legt einfach die Arme um mich und hält mich fest.
In der angenehmen Wärme ihrer Umarmung gleite ich schnell in einen tiefen Traum.

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