Kapitel 10: Der Abstieg in die Hölle

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•Iki Hiyori•

Es war dunkel. Schon wieder. Aber diese Dunkelheit unterschied sich sehr von der, die sie gesehen hatte als sie bewusstlos gewesen war.
Diese Finsternis war beruhigend, Hiyori fühlte sich endlich erlöst und sicher. Hätte man sie jetzt gefragt ob sie hier bleiben oder zurück ins Leben wolle, so hätte die Braunhaarige mit 'Ich bleibe hier' geantwortet.
Hier tat Hiyori nichts weh.
Niemand konnte ihr Schmerzen zu fügen.
Sie weinte nicht.
Sie fühlte nichts.
Sie konnte einfach nur hier stehen, in der Dunkelheit und ihre Einsamkeit geniessen.
Warum war sie eigentlich hier?
Ach, das spielt doch keine Rolle..., ging es Hiyori durch den Kopf. Hier ist es jedenfalls schöner als im hellen Licht des Lebens...
"Denk das bloss nicht!", vernahm sie plötzlich eine bekannte Stimme.
Zu bekannt, sie war tief und feminin zu gleich, zart aber irgendwie auch energisch und impulsiv.
Hiyori brauchte einen Moment um zu verstehen, wer da gesprochen hatte.
Fast so, als hätte sie jemand aus einer Trance geweckt, realisierte sie in einem Augenblick dass sie gefangen war zwischen Leben und Tod. Jetzt im Moment!
"Wenn du so denkst, stirbst du!", sprach die Todesgöttin weiter und liess Hiyori dadurch aufhorchen.
Yomi stand einige Meter entfernt von der Schülerin. Sie stand in einem komischen Licht. Einerseits war da nichts das leuchtete, sondern nur Finsternis, andererseits aber, schien Yomi zu strahlen in der Dunkelheit.
Erst als Hiyori genauer hinsah verstand sie, dass die Todesgöttin die Schatten der Finsternis zu sich zog und dadurch wahrscheinlich in ganz schwach leuchtendes Licht umwandelte.
"Ich dachte schon du bist bereits tot...aber so wie es aussieht ist in deinem Unterbewusstsein ein starker Wille, der nicht sterben will..."
Hiyori war verwirrt.
"Warum bin ich hier? Nach meinem Blutverlust sollte ich längst ein Multiorganversagen gehabt haben!"
"Ich weiss, ich weiss...auch ich bin davon ausgegangen dass du tot bist. Und wenn ich ehrlich bin: Ich glaubte nie daran dass Yato dich retten könnte. Schon als ich hörte dass mein Bruder, Takuro, dich entführt hat, war für mich dein Schicksal besiegelt", entgegnete Yomi und fuhr mit ihrer Hand durch die Schatten die sie umgaben.
N

un war Hiyori jedoch noch verwirrter. Als Göttin der Toten, sollte sie doch schon lange vorher wissen, wann jemand starb. Ziemlich unsicher teilte die Braunhaarige der Göttin ihre Bedenken mit.
Diese wirkte von einem Moment auf den anderen sehr bedrückt und verklemmt.
"Ich weiss was du meinst. Aber wenn ich das Mal so sagen darf: Ich konnte bezüglich deines Lebens von Anfang an nichts sagen. Dabei geht das für gewöhnlich immer bei Menschen."
"Soll heissen: Bei Wesen nahe der Küste siehst du es nicht. Vielleicht, weil ich ein Halbayakashi bin?"
Yomi überlegte eine Weile. Auf ihrem blassen Gesicht lag ein ahnungsloser Ausdruck. "Nein, daran liegt es nicht", schlussfolgerte sie schliesslich.
"Du bist nicht der erste Halbayakashi den ich kennenlerne. Und auch wenn sie nicht ganz Mensch sind, so sind sie es eben doch auch zu 50%. Es muss etwas anderes sein..."
"Und was stellst du dir darunter vor? Vielleicht war ich ja schon tot?"
Hiyori hätte sich gewünscht, Yomi würde den Kopf schütteln, amüsiert lachen oder einen üblich sarkastischen Spruch ablassen. Doch sie schaute mit einem 'Guter-Einwurf-Blick' zu Hiyori rüber.
Nach wenigen Sekunden jedoch, schüttelte sie erneut den Kopf und liess ihre langen, schwarzen Haare durch die Luft wirbeln.
"Nein...aber du hast mich auf eine gute Idee gebracht..."
"Bevor du mir diese mitteilst: Könnte ich Mal erfahren wo ich hier bin?"
Yomi lächelte kurz freudig, schien sich dann jedoch wieder zu fassen.
"Du befindest dich in deinem Unterbewusstsein. Dein Körper, dein Hirn, dein Herz; all das hat bereits aufgehört zu arbeiten. Aber deine Seele ist noch beständig und der Fakt dass ich mit dir reden kann bedeutet, dass du noch nicht ganz tot bist. Anders ausgedrückt: Wir befinden uns in deinem Kopf, deinem tiefst gelegenen, psychischen Geist; Deiner Seele."
Hiyori brauchte einen Moment um das zu verstehen. Dann jedoch nickte sie verständlich und hörte Yomi weiter zu, als diese ihre Idee predigte.
"Wie bereits erwähnt: Das Leben von Wesen nahe der Küste kann ich nicht bestimmen. Halbayakashis allerdings sind eigentlich Wesen, deren Leben ich sehen kann. Deines ist mir jedoch nicht bekannt...daher, könnte ich versuchen dich in deine Vergangenheit zu schicken."
"Meine Vergangenheit? Wieso, ich weiss doch alles was ich wissen sollte."
Yomi spielte ein wenig mit den Schatten und liess sachtes Licht daraus entspringen. Sie bückte sich und legte das Licht direkt auf etwas leichenblasses, dass sich schnell hin und her bewegte wie eine nervöse Schlange. Hiyori musste zwei Mal hinsehen um zu verstehen was da so rumtanzte - vor Schreck zuckte sie zurück.
Der Göttin schien aufgefallen zu sein, denn sie lächelte sanft und sagte:
"Du fragst dich sicher was das ist. Nun, das sind die hilfesuchenden Hände der Toten, die nicht mehr tot sein wollen. Wir sind hier nicht wirklich alleine. Deine Seele befindet sich an der Schwelle des Todes. Und je länger wir hier sind, desto schneller bist du tot."
Hiyori starrte ungläubig zu den Händen der Toten und liess ihren Blick ängstlich nach unten gleiten, als sie kalte Hände an ihren Fussgelenken spürte. Geschockt beobachtete sie, wie ihre Beine langsan in den Boden einsanken und schaute Yomi hilfesuchend an. "Ehm Yomi...ich will ja nicht unhöflich sein oder so, aber ehrlich gesagt wird mir dieser Ort langsam unheimlich..."
"Wir sollten uns beeilen...", antwortete Yomi und richtete sich wieder auf, schaute die Braunhaarige ernst an.
Die unheimlichen Hände tanzten unruhig hin und her, fast so, als würde ihnen Yomis Gehen nicht gefallen. Wie kleine Kinder, die zum ersten Mal in die Spielgruppe gingen und ihre liebe Mutter gehen sahen.
"Warum beeilen? Und kannst du mich Mal hier raus ziehen?!"
"Hiyori, ich kann dich da nicht raus ziehen. Du wirst in die Totenwelt gezogen, daran kann ich nichts ändern. Daher müssen wir uns mit deiner Vergangenheit befassen...ich erkläre kurz: Dass ich deinen Tod nicht gesehen habe, ist anormal. Ich will versuchen in deiner Vergangenheit, in deinem Kopf irgendetwas zu finden, was dich nicht zu einem vollen Menschen macht."
Hiyori verstand nicht wirklich was Yomi meinte, aber noch bevor sie nachfragen konnte hatte die Göttin Schatten un die Schülerin gehüllt und einige Sekunden später fand sich Hiyori auf einem knarrigen, alten Holzboden wieder.
Yomi war fort, aber zu sehen war generell mehr als bisher.
Die Braunhaarige erblickte zunächst die Backsteinwände, die den Raum in dem sie stand abrundeten. Es sah aus, als würde Hiyori in einem Turm stehen. Die pinken Augen blieben am Fenster stehen, wo ein Mädchen sass. Sie war jung und hatte langes, braunes Haar. Ein schönes, langes, weisses Kleid bekleidete ihren zierlichen Körper. Hiyori vernahm eine süsse Stimme, die eine sanfte Melodie summte.
Langsam näherte sie sich dem Mädchen und stellte sich ein wenig entfernt von ihr neben das Fenster.
"E-Ehm...entschuldigung...? Ich glaube ich habe mich verlaufen, können Sie mir sagen wo ich-..."
Das Mädchen stoppte plötzlich mit dem Summen und lehnte sich aus dem Fenster, schaute freudig raus und winkte jemandem zu.
"Yaboku! Yaboku, wie schön dass du mich wieder besuchst!"
Hiyori war verwirrt, wollte daher gerade fragen wen das Mädchen meinte. Doch als jemand in das Zimmer sprang durch das geöffnete Fenster, stockte ihr der Atem. Zu sehen war ein kleiner Junge, gleich alt wie das Mädchen. Er hatte die Haare kurz, einen Kimono in dunkelblau an und die auffallend hell-blauen Augen. Er trug den Duft, den Hiyori unter 1'000 anderen Düften erkannt hätte: Das war Yato.
Freudig lächelnd schaute er das Mädchen an, wuselte ihr durch das Haar und schloss das Fenster vorsichtig. "Du weisst doch, ich komme so oft ich kann!", sprach er und setzte sich auf den Boden.
Das Mädchen lachte amüsiert, rannte kurz mit schnellen Schritten weg und kam mit einem Tablett zurück: Kekse und warmer Tee.
Nun war Hiyori mehr als verblüfft, denn zum ersten Mal sah sie das Gesicht des Mädchens: Die Augen waren verbunden mit einem schnee-weissen Tuch.
Wie konnte dieses Mädchen sehen wo sie lang läuft?, ging es Hiyori durch den Kopf, als das Mädchen sicher und ganz normal ihre Tasse Tee nahm und den Keks in das heisse Wasser tauchte.
Der kleine Yato ermahnte sie dass das eklig sei und man das nicht mache, doch das Mädchen lachte bloss amüsiert und ass den Keks genüsslich auf.
Hiyori hörte den beiden eine Weile zu und schloss drei Dinge aus dieser Konversation:
1. Der kleine Junge war wirklich Yato.
2. Das Mädchen schien immer Abstand zu nehmen von Yato, fast so, als durfte sie ihm niemals zu nahe kommen.
3. Die beiden schienen Hiyori weder zu sehen, noch zu hören.
Doch warum genau Hiyori hier war, das war ihr immer noch nicht bewusst.
Yomi hat gesagt sie müsste meine Vergangenheit sehen. Aber ich bin doch gar nicht hier...wenn das jemandes Vergangenheit ist, dann Yatos..., dachte sie sich und horchte auf, als sie die Stimme des jungen Yatos hörte:
"Du...sag Mal, kann ich eigentlich Mal deine Augen sehen?"
Fast so als hätte er einen Knopf gedrückt, verschwand das Lächeln auf den Lippen des Mädchens. Sie schaute traurig zu Boden und stellte die Tasse stumm auf dem Tablett ab.
Langsam stand sie auf, lief zum Fenster und öffnete es.
Es dämmerte bereits und für einen Moment fragte sich Hiyori, wie schnell die Zeit vergangen war.
"Immer wenn ich mit dir zusammen bin, vergeht die Zeit so schnell...wir haben schon wieder Abend und du musst gehen. Aber, mein lieber Yaboku, warum musst du mich immer verlassen? Warum bleibst du nicht einfach hier bei mir?"
Yato schaute das Mädchen traurig an, schien entweder bemerkt zu haben dass er einen wunden Punkt getroffen hatte, oder dass er ihre Bitte abschlagen musste.
"Ich...ich kenne nicht einmal deinen Namen. Ich weiss nichts über dich, deine Augen sind mir sogar verborgen geblieben."
Das Mädchen drehte sich nicht zu Yato um, starrte nur weiter hin aus dem Fenster und liess den kühlen Abendwind durch ihre bodenlangen Haare wehen - Hiyori verstand noch immer nicht, wie das Mädchen etwas sehen konnte. "So ist das...du hasst mich also..."
"Nein! Ich hasse dich nicht!, versuchte Yato ihre Worte zu verneinen, doch das Mädchen drehte sich wütend um und schrie:
"Doch! Alle hassen mich! Niemand kommt mich je besuchen ausser du! Das machst du doch nur aus Mitleid! Keiner mag mich, alle meiden mich! Alle!"
Hiyori war selbst geschockt von dem Mädchen, doch noch lange nicht so wie Yato. Gerade als sie dachte, sein Blick könne nicht fassungsloser aussehen, wechselte ihr Blick zu dem Mädchen.
Sie hatte sich wieder zum Fenster gedreht, und stand nun auf dem Sims, den Blick in den Himmel gerichtet.
Hiyori war schon aufgefallen dass sich dieser Raum wohl in einem Turm befand, sie mussten also hoch oben sein.
Und das Yato rein gekommen war, wunderte sie nicht: Er war schliesslich ein Gott.
"Also, wenn mich sowieso alle hassen und meiden, warum lebe ich dann noch...?"
Yato schien endlich zu merken was sie vor hatte, rannte auf das Fenster zu.
Doch das Mädchen liess sich bereits nach vorne in die Tiefe fallen, gab nicht einen Laut von sich als sie stürzte.
Yato stand einfach nur geschockt am Fensterrand und starrte in die Tiefe.

Into the DarknessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt