Kapitel 9

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Ich wischte mir eine Träne aus den Augenwinkeln. Wir würden wohl ab jetzt Brieffreundinnen sein… Eigenartig. Ich schaute nochmal in den Briefumschlag und unten war tatsächlich noch ein Zettel. Ich fischte ihn heraus und hielt ein Foto von Gideon in meiner Hand! Auf der Rückseite waren ein paar Worte geschrieben.

Allerliebste Gwenny,

was soll ich jetzt nur ohne dich mit Cousine Sofa machen? Ich vermisse unsere vielen gemeinsamen Stunden! Aber vergiss nicht: selbst 100 Jahre sind für uns keine Hürde! Irgendwann werden wir glücklich miteinander leben. Wir brauchen einfach nur Geduld.

9999999999999999999999999999999999999999999999 Küsse,

Gideon

Ich fiel ihm um den Hals. So etwas süßes!

„Gideon! Danke.“

„Ach Gwenny mein Schatz, das ist das mindeste, dass ich tun sollte! Ab jetzt führen wir halt eine ähm… Fernbeziehung.“ Er versuchte, verlegen zu lächeln. Irgendwie sah es aber doch noch traurig aus. Ich schmiegte mich wieder an ihn. Während wir noch da saßen, tat Lady Tinley  uns Kartoffeln und Braten auf.

Während des Essens war es die ganze Zeit still. Wir fuhren alle ein wenig zusammen, als die Standuhr im Esszimmer zu acht Uhr schellte.

Gideon sprang hoch.

„Mist, um halb neun spring ich!“ er kramte einen Zettel aus einer weiteren Tasche und gab ihn Lady Tinley. Sie überflog ihn kurz, lächelte und schaute Gideon an.

„Aber gerne, wenn du das wirklich möchtest.“ sagte sie.

Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprachen, aber ich spürte, dass mich das nichts anging, also sagte ich nichts dazu.

Gideon ging zur Haustür. Bevor er sie jedoch öffnen konnte, umarmte ich ihn noch einmal und küsste ihn.

„Das ist für dich.“ sagte ich und küsste ihn danach noch einmal kurz auf die Wange. „Und den gibst du Caroline und den anderen. Aber nicht Glenda und Charlotte!“

Er lächelte mich an.

„Bis bald, Gwenny.“

„Bis bald.“ sagte ich und schaute hinterher, wie er die Hofeinfahrt entlang schlenderte. Vor zwei Monaten noch waren wir zusammen dort entlang gerannt. Er hatte Lucy eine Pistole an den Kopf gehalten und wir waren dann in die Trinity Hall geflüchtet und dort…

hatten wir uns dann zum allerersten mal geküsst. Wieder einmal lief mir eine Träne über die Wange und ich fragte mich so langsam, ob man irgendwann auch mal leergeheult sein könnte. Wenn ja, dürfte das bei mir wohl nicht mehr lange dauern.

Lucy legte zaghaft ihre Hand auf meine Schulter.

„Komm, Gwendolyn.“

„Ja Lu…Mum“ sagte ich und schaute sie leicht verlegen an. Sie wiederum strahlte mich förmlich an.

„So fühlt es sich also an, wenn das eigene Kind zum ersten mal Mama sagt…“ sagte sie. Ich verstand sie irgendwie. Sie hatte ein kleines Kind zur Welt gebracht, und plötzlich stand es nur Monate später als 16-jährige vor ihrer Tür und dachte, es wäre ihre Cousine.

Es muss schon ziemlich hart für sie gewesen sein…

Ich folgte Lucy und Lady Tinley wieder ins Esszimmer. Dort aßen wir zu Ende. Nach dem Essen trug das Hausmädchen eine große Schüssel Schokopudding herein.

Ich tat mir ordentlich etwas auf. Die einzige gute Seite an meiner aktuellen Lage war, dass Charlotte nicht mehr über meine Manieren und mein Essverhalten mäkeln konnte.  Das war aber auch das einzige…

Der Pudding schmeckte echt toll! Ich war immerhin schon seit Jahren an das Chemie-Kantinen-Essen an St. Lennox gewöhnt… Da war so ein richtig selbst gemachter Schokopudding schon etwas Tolles. Apropos St Lennox…

„Mum, muss ich eigentlich zur Schule gehen?“

„Nein, glücklicherweise nicht. Heutzutage sind junge Mädchen in deinem Alter schon fertig mit der Schule und fangen meist irgendwo als Hausmädchen an.“

„Oh, achso…“ Meine Gedanken fuhren mal wieder Achterbahn. Arbeiten gehen, und nicht mehr zur Schule? Ich hatte bisher gerade mal ein Praktikum gemacht. Aber genaue Gedanken darüber, was ich mal machen möchte, hab ich mir noch nie gemacht…

„Du wirst aber nicht als Hausmädchen arbeiten. Hausmädchen wohnen nämlich auch in der Familie und du hättest dann ja ein kleines Problem…“ sagte Lady Tinley.

Von wegen kleines Problem. Meine aktuelle Lage stellte ein viel größeres Problem dar…

Nach dem Essen ging ich nach oben und zog mir das Nachthemd an. Es ging mir etwa bis zu den Knien und war mit vielen kleinen rosa Blüten verziert. Ich setzte mich auf das Bett und starrte aus dem Fenster. Die Sonne ging gerade unter und tauchte den Himmel in ein zartes Orange-Rosa. Es war wunderschön!

Zu gerne hätte ich diesen Augenblick mit Gideon verbracht! Ich seufzte wieder einmal.

Ich hörte Schritte auf dem Flur näher kommen und schließlich öffnete sich langsam die Tür zu meinem Zimmer. Hastig versteckte ich mein Handy unter meinem Kopfkissen, doch in der Tür stand nur Lucy, die Handys noch gut kannte.

„Und, Gwenny, wie geht’s dir?“ fragte sie.

„Ganz gut…“ log ich. Aber offensichtlich nicht besonders gut, denn Lu… Mum nahm mich schon wieder in den Arm.

„Keine Sorge, es wird alles gut. Morgen sehen wir weiter. Dann kann ich dir die Gegend zeigen.“

Der Vorschlag gefiel mir.

„Hört sich gut an.“

„Dann leg dich jetzt schlafen, ja?“

„Ok. Bis morgen.“

„Gute Nacht“ sagte sie noch, dann verließ sie das Zimmer.

Ich lag noch lange Wach. Heute Morgen noch bin ich früh aufgestanden, und habe ausgiebig geduscht. Und jetzt sitze ich hier, im Jahr 1912 und würde in frühestens 100 Jahren wieder heimlich Graces Shampoo nehmen können…

Ich fragte mich, wie ich dann wohl aussehen würde. Ob ich alt und schrumpelig sein würde oder ob ich mit 30 Jahren einfach mit dem Altern aufhören würde. Noch lange grübelte ich, doch irgendwann muss ich dann doch in einen Unruhigen Schlaf verfallen sein.

Ein Unfall mit FolgenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt