Kapitel Sieben

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Zweige zerrten an ihren Haaren, zogen ganze Büschel heraus und trugen sie wie eine Trophäe an ihren Blättern.

Aura kämpfte gegen die Natur und sie kämpfte gegen die Erinnerungen, die mit ihr einhergingen. Schwer atmend half sie Theodor über die Wurzeln, der Schweiß trat auf ihre Stirn und ein Gefühl der Panik überkam sie.

Sie fühlte sich gefangen, als wäre sie in einen Käfig gelockt worden, den sie nie verlassen könnte. Als würden die Bäume um sie herum immer näher kommen, als würden sie versuchen, sie einzusperren.

Aura hielt inne, als sie den Schrei eines kleinen Mädchens hörte. Verzweifelt klang er, von einer unerklärlichen Trauer erfüllt.

Sie blickte sich um, suchte in dem Labyrinth aus Stämmen und Blättern nach einer anderen Person. Aber da war nichts, da war nur der schwarze Wald.

Ein weiterer Schrei, direkt hinter ihr.

Sie wirbelte herum, ließ Theodor dabei los, der das Gleichgewichr verlor und Flappi unter seinem Körper begrub. Blut rann aus den Schürfwunden seiner Hände, mit denen er versucht hatte, sich aufzufangen.

Aura fiel das nicht auf, ihre weit aufgerissenen Augen blickten umher, suchten panisch nach irgendeinem Mädchen, das ihr bekannt vorkam. Schreie, schreckliche Schreie.

Sie schlug ihre Hand vor den Mund, schloss ein weiteres Mal ihre Augen, sank auf den Boden und vergrub ihre Finger in der feuchten Erde.

Sie schien gefangen zu sein. Doch nicht gefangen von diesem Wald, sondern von den Erinnerungen, die sie einholten, die sie mit der Natur verband.

Szenen spielten sich vor ihrem inneren Auge ab. Bilder, die sie zu verhindern versuchte, die sie vergessen musste. Ein lebloser Körper eines kleinen Mädchens. Ein weißes Kleid voller dunkler Blutflecken. Der Nachklang einer letzten Hoffnung.

Ein Mann, ihr Vater, der ihren Körper trägt. Seine Augen voller Hass und voller Zielstrebigkeit. Die Hände voll mit dem Blut seiner Tochter.

Hände, die Auras Schulter berührten.

Schreie, die durch ihren Körper drangen.

Sie versuchte sich verzweifelt zu wehren, schlug gegen einen Arm, wurde am Kinn gepackt und gezwungen, ruhig zu bleiben.

„Aura", murmelte eine leise Stimme. „Aura."

Sie weinte, schmeckte die salzigen Tränen auf ihrer Zunge.

„Aura, komm zu dir."

Eine starke Hand, die die ihre berührte. Eine Narbe am rechten Daumen.

Sie schrie auf, ein weiteres Mal, ein letztes Mal.

Dann sackte sie in sich zusammen.


Raik hockte neben dem bewusstlosen Körper. Zuckungen und Krämpfe zogen sich durch ihre Muskeln, spannten sich mal an, ließen dann wieder los.

Theodor hatte sich wieder aufgerichtet, achtete nicht auf den Schmerz in seinen Händen, sondern eilte mit seinen kurzen Beinen zu seiner Schwester.

Raik hatte ihre Hand in die seine gelegt, blickte in ihr Gesicht, berührte ganz sacht ihre Haut. Ihr Mund war geöffnet, zu einem stummen Schrei.

Ein Schrei, der nur in Raiks Innerem wiederhallte.

Seine Hand zitterte, sein ganzer Körper schien von einer Anspannung erfüllt zu sein, der er nicht gewachsen war.

Er machte sich Sorgen.

Und er wusste nicht, was er tun sollte, um ihr zu helfen.

Ein weiterer Krampf erschütterte ihren Körper, sie zog sich stöhnend zusammen, zog ihre Knie eng an die Brust.

Die GebrocheneWo Geschichten leben. Entdecke jetzt