Kapitel 21

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Meine Hände zitterten. Ich faltete sie im Schoß und versuchte ruhig zu atmen. Ich hatte Angst. Große Angst. Weil ich nicht wusste, wer da kam, wer das ganze Chaos als einiges überlebt hatte und warum. Weil der Himmel so dunkel wurde, dass wir nichts mehr sehen konnten, doch ganz weit entfernt am Horizont ein kleines, helles Licht leuchtete, als würde eine Miniatursonne dem Himmel beiwohnen. Weil Ryan in einem schrecklichen Tempo auf das Licht und damit die Fremden, die, wie Nevio beteuert hatte bevor er ohnmächtig geworden war, verantwortlich für das Leuchten waren und sich ihr Standort dort befand wo auch der der Lichtquelle war. Ich hatte mich auf der Rückbank zusammengekauert, die Beine auf den Sitz und an die Brust gezogen, die Arme darum geschlungen, die Zähne zusammengebissen, die Hände jetzt zu Fäusten geballt. Ich versuchte mir Mut zuzusprechen, mich zu beruhigen, doch es half nichts. Lia saß vorne, Nevio lag in dem großen Kofferraum, Ryan fuhr. Leyen war der einzige der meinen Zustand mitbekam und der einzige den es anscheinend selbst dann nicht interessierte. Er sah seelenruhig aus dem Fenster und formte ohne hinzusehen ein neues Meisterwerk aus Draht. Ich schloss die Augen. Ich lauschte dem Ticken von Ryan's Uhr, um mich abzulenken und zählte die Minuten. Fünf Minuten vergingen. Sieben. Zehn. Fünfzehn. Einundzwanzig. Und ich saß immer noch da und hatte schreckliche Angst. Dann spürte ich, wie sich eine warme Hand auf meine zur Faust geballten zitternden Finger legte. Ich öffnete ruckartig die Augen und wollte meine Hände reflexartig zurückziehen, doch die fremde Hand schloss sich nur fester um meine Faust. Ich konnte in der Dunkelheit nichts sehen. Mein Herz raste. Aber plötzlich begann ich mich zu entspannen. Meine Finger wurden sanft auseinandergebogen und dann von der warmen Hand umschlossen. Die Wärme beruhigte mich. Ich sah mich um, erkannte allerdings nur Leyen der immer noch zum Fenster herausstarrte und Ryan und Lia vorne im Auto, die sich nicht von der Stelle bewegt hatten. Mein Blick wanderte hinunter zu meiner Hand. Sie war fest umschlossen von langen Fingern. Ich folgte mit meinen Augen von den Fingern dem dazugehörigen Arm entlang. Er führte zu Leyen. Ich war für einen Moment so überrascht, dass ich meine Angst vergaß. Ausgerechnet Leyen tröstete mich? Ich konnte es kaum glauben. Ich wusste, dass er wusste, dass ich ihn beobachtete, aber er sah immer noch gelangweilt zum Fenster raus, als wäre nichts. Mein Herz machte einen Satz. Ob vor Verwirrung oder Freude ich wusste es nicht. Aber das war mir in dem Moment egal. Mir war auch egal, dass ich Leyen eigentlich nicht leiden konnte. Jetzt zählte nur, dass er mir Halt gab. Ich drückte leicht seine Finger und lehnte mich dann in meinem Sitz zurück. Leyen, gab mir Halt!

Als wir hielten, schreckte ich auf. Ich war doch tatsächlich eingeschlafen! Leyen hatte meine Hand losgelassen und kletterte gerade über die Rückenlehne unserer Sitzreihe, um nach Nevio zu schauen. Ryan war schon ausgestiegen und öffnete meine Tür. Ich brachte ein Lächeln zustande und trat hinaus in die Dunkelheit. Das Licht am Horizont war groß und blendend hell, keine hundert Meter von uns entfernt. Wir stellten uns alle nebeneinander; Nevio stützte sich auf Leyen, der dabei nur grimmig das Gesicht verzog. Lia griff nach meiner Hand und ich sah in ihr Gesicht. Keine Angst war dort zu finden. Keine Panik. Nur diese Leere; der stumpfe Blick ihrer Augen, die eingefallenen Wangen, die helle Haut, die trotz der Dunkelheit leicht schimmerte. Ich drückte ihre Finger, atmete tief ein und gemeinsam gingen wir auf das Licht zu. Wir bemerkten schon von einiger Entfernung, dass etwas nicht stimmte. Die fünf großen Gestalten, nur als dunkle Schatten in dem grellen Licht zu erkennen, schienen zu schweben. Vielleicht anderthalb Meter über dem Boden. Wir sahen nur ihre dunklen Umrisse, doch etwas schien um sie herum zu wehen. Ihre Kleidung vielleicht? Ich schloss für einen Moment die Augen, dann ging ich hinter Lia noch einen weiteren Schritt auf sie zu. Meine Augen gewöhnten sich langsam an das grelle Licht und nach weiteren Sekunden konnte ich auch die Gestalten vor dem Licht leichter betrachten. Sie trugen lange zerrissene Umhänge, ihre Gesichter waren in den Schatten ihrer Kapuzen versteckt. Schweben schienen sie tatsächlich. Sie befanden sich in einer ... Kugel aus Licht. Sie sah nicht aus als wäre sie aus fester Materie, sondern als bestünde sie wirklich einfach nur aus einem hellen Schimmer. Und die Fremden standen darin. Doch was mich noch viel mehr erschrak, so doll dass ich keuchend einen Schritt zurückwich, waren die Amulette, die sie um den Hals trugen. Ihre Farbe war kaum bestimmbar, sie waren von Schatten umhüllt, die wie Nebel um sie herumwaberten. Mein Herz raste, Schweiß trat mir auf die Stirn. Es waren die Amulette aus meinem Traum! Wie war das möglich? Wie konnte das sein? "Kann es sein, dass die sich irgendwie überhaupt nicht bewegen? Nicht mal zu atmen scheinen sie." sagte Nevio. Ich nickte. Das war mir auch schon aufgefallen. Leyen trat einen Schritt vor und zog dabei Nevio mit sich, da dieser sich immer noch an seine Schulter klammerte. "Hey. Wollt ihr uns vielleicht sagen, was hier abgeht und wer ihr seid?" rief er. Zuerst passierte gar nichts. Dann zogen sich die Gestalten in einer einzigen fließenden Bewegung gemeinsam die Kapuzen herunter. Und wir wichen alle zurück. Es waren alles Kinder. Zwei Mädchen, drei Jungen. Das eine Mädchen war groß, blond, wunderschön und trainiert. Das zweite war kleiner und hatte lange violette Haare, die ihr Gesicht umrahmten. Zwei der Jungen waren groß und muskulös. Der eine war braunhaarig, der andere hatte kurzes flammendrotes Haar. Der dritte und letzte Junge war klein, dünn und blauhaarig. Diese Kinder ... waren wir! Wir keuchten. "W ... was?" stammelte Nevio, Ryan zog die Augenbrauen hoch, die Stirn gerunzelt. Leyen zog sein Schwert und stellte sich in Angriffsstellung. Lia griff ebenfalls nach ihrem Dolch. Ich stand nur regungslos da. Das war nicht möglich. So etwas gab es nicht! Unsere Ebenbilder verzogen keine Miene, ihre Gesichter waren ausdruckslos, die Blicke leer. Die Zeit schien stillzustehen. Das leise Rauschen des Windes und unser Atem waren die einzigen Geräusche, die die Nacht erfüllten. Dann erstrahlten plötzlich die Amulette, die unsere Abbilder um den Hals trugen, in einem grellen Licht und die Kinder öffneten gleichzeitig die Münder und sprachen mit einer tiefen, metallenen, grauenvollen Stimme, die nicht von dieser Welt stammen konnte: "Schatten. Das Chaos, das über diese Welt kam, ist nichts als ein Schatten. Ein dunkler Schatten, der in diese helle Welt einbrach und das Licht der Menschen auslöschte. Menschen sind nur Puppen. So zerbrechlich. So leicht zu spielen. So stumpf. Sie nähren sich an Hoffnung, sprechen von einer besseren, schönen Zukunft, dabei töten sie ihren kleinen Planeten, mit allem was sie tun können. Sie vergiften das Wasser und die Erde, das Blut und den Körper ihrer Erde. Sie verpesten ihre eigene Luft, die sie selbst zum Überleben brauchen. Sie zerstören ihre Lebensräume, zerstören sich gegenseitig. Die Menschen töten sich selbst, nehmen sich alles. Die Menschen sind dumm. Einfältig, machtbesessen, naiv. Sie glauben an Wunder, doch wenn ihnen eines begegnet, zerstören sie es.
Doch nun, haben wir sie zerstört. Aus Rache. Als Vergeltung, als Gegenzug dafür, dass sie all das vernichteten. Nun haben wir unsere Schatten über ihrer Welt ausgebreitet und ihnen ihr Licht genommen. Ihnen Schmerzen bereitet. Ihnen die Zukunft genommen, die sie sich immer ausgemalt haben. Wir haben ihre kleinen Herzen zum Schweigen gebracht. So wie sie es immer verdient haben." Die Stimme erlosch. Genauso wie der Schimmer der Amulette. Wir sagten kein Wort. Es war wieder totenstill. Die Worte brauchten eine geraume Zeit bis sie wirklich bis ganz zu meinem Gehirn gelangt waren. Das konnte nicht stimmen. Diese Kinder sollten für die Zerstörung, für dieses schreckliche Vergehen verantwortlich sein? Wir?! Ich konnte ... ich wollte es nicht glauben! Wir hatten all diese Menschen getötet? Wir hatten ihnen ihr Leben genommen? "Das sind nicht wir!" schrie Nevio. Ein starker lauter Wind war losgebrochen, umtoste die fremden und doch so vertrauten Gestalten. "Lia, reiß dich zusammen!" brüllte Nevio und humpelte an ihre Seite. Ich fuhr erschrocken zu ihr herum. Ihr Gesicht war vor Wut und Trauer verzerrt, ihre Hände zu Fäusten geballt. Und dann begann sie zu schreien, wie sie noch nie geschrien hatte. Sie sank auf die Knie und presste sich eine Hand auf ihre Brust und die andere auf ihren Mund, als würde sie die schrecklichen Laute zurückhalten wollen. Ich hatte das Bedürfnis mir die Ohren zuzuhalten, ließ es aber bleiben. "Lia! LIA!" brüllte Nevio, doch sie hörte nicht auf. "Lia, was ist denn los?! Sag mir was los ist! Lass mich dir helfen. HÖR AUF ZU SCHREIEN UND SAG MIR, WAS ICH TUN KANN!" Der Erdjunge hockte sich neben sie. Er sah mehr als ängstlich aus. Lia hob ihr Gesicht und sah ihm in die entsetzten Augen. Sie sprach leise, doch ihre Stimme war gefüllt mit Verzweiflung, getränkt von Trauer und zitterte vor Entsetzen und Zorn. "Du kannst mir nicht helfen, Nev. Keiner kann das. Ich weiß es." "Das weißt du eben nicht! Sag mir wie und ich werde dir helfen. Sag mir was du brauchst und ich werde es dir bringen. Alles was du willst, Lia. Ich würde alles tun, damit es dir besser geht." entgegnete Nevio verzweifelt. Doch in seiner Stimme lag noch etwas. Etwas dass mir vorher nie aufgefallen war, aber jetzt wo ich darüber nachdachte, schon immer da gewesen war. Liebe. Nevio liebte sie. Lia sah ihn traurig an. "Du kannst mir nicht helfen." wiederholte sie. "Es ist die Angst, Nev. Die schreckliche Angst. Sie frisst mich auf. Sie zerfetzt mich von innen. Meine Gedanken sind getränkt von ihr. Ich kann kaum noch klar denken. Ich möchte, dass es vorbei ist, Nev. Ich möchte, dass ich morgens aufwache und mein erster Gedanke nicht Warum bin ich bloß aufgewacht, helft mir, macht dass es vorbei ist ist. Verstehst du? Mir kann niemand helfen." Ich kniete mich neben sie nieder und legte ihr einen Arm um die Schultern. "Doch, Lia, wir können dir helfen. Wir sind für dich da. Was es auch ist, vor dem du Angst hast, wir werden es finden und vernichten. Du kannst auf uns zählen!" Meine Freundin wandte sich mir zu und lachte hohl und falsch. "Du willst es vernichten, Thalia? Nur zu. Vernichte mich. Denn ich bin es, vor der ich mich fürchte."

Der Kompass der Zeit *Pausiert*Where stories live. Discover now