Patient

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»Venice?«
Ich höre eine fremde Männerstimme meinen Namen rufen. Sofort stehe ich auf und entriegele die Tür. Vor mir steht ein Mann, dem Aussehen nach um die 30 Jahre alt. »Hallo?«, frage ich.
»Hallo, guten Abend, ich bin Jack. Ich wollte sie nur holen, um mit ihnen die Zimmer unserer Patienten durchzugehen. Damit sie sie kennenlernen. Und einschätzen können.« Der Mann sieht mich freundlich an.
Ich nicke, verschließe die Tür hinter mir.
»Wir beginnen mit Jeremy Clark. Die Patienten sind oben untergebracht. «

Ich folge Jack zwei weitere Treppen hinauf. Dann kommen wir zu einer verpanzerten tür. Er gibt einen sehr langen Code ein und die Tür öffnet sich. Schnell gehen wir durch und Jack schließt wieder ab.

Der Korridor ist an sich der Gleiche. Der Einzige Unterschied: hier besitzt jede Tür einen Code.

Jeremy Clark.

»Hallo, Jeremy. Wie gehts uns heute so?« Jack setzt eine fröhliche Mine auf. Jeremy sitzt stumm auf dem Bett.
Er starrt mich aus seinen großen braunen Augen an.
»Wer bist du?«, schreit er mich dann an.
Ich erschrecke. Dann erlange ich meime Selbstbeherrschung wieder.
»Ich bin Venice, Mr. Clark. Ich werde sie betreuen.«
Er schnauft verächtlich.
»Betreuen, sagen Sie? Ich brauche kein Kleinkind, das mich babysittet. .« Er sieht mich an als wolle er Mich auffressen. Dann erinnere ich mich wieder. Er aß seine Opfer, nachdem er sie getötet hat. Ich erschaudere.

Nach Jeremy besuchen wir Rosaly.
Sie sitzt schweigend am Fenster.
Ihre Unbekleideten Arme sind fast gänzlich vernarbt. Ihre Augen sind stumpf. Ich will Mitleid mit ihr haben. Sie ist depressiv. Hat sich geritzt, einen Suizidversuch begannen.
Mit ihrer kleinen Tochter. Die dabei gestorben ist.
Und genau deswegen kann ich kein Mitleid für sie empfinden. »Rosaly. Komm schon, zieh dir was an und ab ins Bett mit dir. Du wirst noch krank.«

Rosaly sieht Jack vernichtend an. »Ich soll also nicht krank werden? Bin ich nicht schon krank genug? Ich habe mein Kind ermordet. Aber statt Tot zu sein vergeude ich hier mein sinnloses Leben. Ich will krank werden. Leiden. Ich will sterben.« Ich verlasse den Raum. So viel Selbstmitleid auf einmal. 

Als Nächstes suchen wir Courtney auf. Sie hat eine schwere geistige Behinderung, ist aber noch eine der harmlosesten Patienten, wie Jack mir berichtet, während sir noch viele weitere Zimmer besuchen.

Und dann stehen wir vor dem Zimmer des sagenumwobenen Robin Brooks.

Jack schließt die Tür auf. Ich sehe Robin, wie er an seinem Tisch sitzt. Ich erkenne nicht genau, was er tut, doch ich sehe... ihn.
Seine durchaus gut trainierte Rückenmuskulatur.
Als er uns hört, steht er auf. »Guten Tag, Jack. Was für eine Freude sie wiederzusehen. Dürfte ich den Namen ihrer bezaubernden Begleitung erfahren?«

Jack begrüßt ihn. »Das ist Venice. Sie ist neu hier. Und deine neue Therapeutin.« Ich spüre seinen Blick auf mir, wage es aber nicht, ihn anzusehen. »Venice.« , flüstert er ehrfürchtig. Seine Stimme ist wunderschön. Mein Herz pocht. Er soll mich nicht beeinflussen.

»Venice... das heißt Venedig. Wunderschöne Stadt. Diese vielen tollen Plätze... zauberhaft. «
Er reicht mir die Hand. »Schön, sie kennenzulernen, Venice.« Ich erwidere seinen Gruß. »Also gut. Was machst du hier überhaupt, Robin?« Jack geht zu seinem Schreibtisch. Er hebt ein Blatt auf und mustert es.
»Was soll das sein, Robin?« Robin lächelt mild. »Das ist eine Zeichnung, Jack. Ich zeichne. « Jack nickt. »Und was soll das darstellen, Robin?«

Robin schweigt. »Es könnte alles sein. Lass deiner Fantasie ihren Lauf. Es könnte alles sein.«
Robin lächelt mich an. Ich lächle zurück.
»Mhm. Okay. Na dann. Zeichne mal schön weiter, Picasso.«
Jack zieht mich am Arm mit hinaus.
»Auf Wiedersehen, Robin.« Ich sehe ihn fasziniert an. » Oh ja. Wir werden uns wiedersehen, Venice. Vertrau mir.« Diese Art, wie er es betonte, nimmt mir einen Moment den Atem. Jack schließt die Tür, bevor ich noch etwas erwidern kann. »Problemfall Nummer 1, Venice, merk dir das. Dieser Typ lügt und manipuliert durchgehend.« Ich nicke. Mein Herz klopft immer noch.

Jack begleitet mich noch zu meinem Zimmer. Wir wünschen uns eine Gute Nacht, bevor er in sein eigenes Zimmer verschwindet.

Die Begegnung mit Robin geht mir nicht aus dem Kopf. Trotz meines Psychologiestudiums konnte ich ihn eben nicht einschätzen. Meine Müdigkeit ist auf einmal wie weggewischt.
Später am Abend klopft es abermals an der Tür. Ich stehe von meinem Platz auf und öffne die Tür.
»Guten Abend, Miss.« Auf dem Korridor steht ein sehr großer Mann mit schulterlangen Haaren, die er auf seinem Kopf zu einem unordentlichen Dutt geknotet hat. Er hat viele kleine Lachfältchen um die Augen- und trägt eine Schürze. Erst jetzt sehe ich den Speisewagen, der neben der Tür an der Wand steht. »Zimmerservice!«, lacht der Mann, der laut seinem Namensschild Alex heißt. Ich grinse. Seine positive Aura ist ansteckend.
»Yay!« Alex zwinkert mir zu. »Spaghetti Bolognese ist doch okay, hoffe ich.« Ich nicke. »Klar!«
Alex schiebt den Wagen in mein Zimmer. Dann geht er zum Esstisch und legt ein Tablett ab, dass mithilfe einer Alufolie warm gehalten wird. »Du bist neu hier, Venice. «, stellte er fest. »Ja... das war heute mein erster Tag hier.« Alex nickt. »Dann hast du sicher schon einige Leute kennengelernt.«

Ich nicke. »Ja. Mr. Chains, Melissa, Jack... und dann noch Jeremy, Rosaly, Courtney und noch ein paar andere. Und... Robin.« Alex grinst. »Na siehst du. Sind alles nette Menschen hier. Auch wenn manche von ihnen im Ersten Moment nicht danach aussehen. Aber glaub mir. In jedem von ihnen steckt ein Herz.«. Er legt seine Hand auf die linke Seite seiner Brust.
»Ja, ich glaube, da hast du Recht.« Alex zwinkert und gibt mir einen freundschaftlichen schlag gegen die Schulter. »Ich hab immer Recht, das solltest du dir Merken.« Dann lacht er und ich stimme mit ein. »Dann lass es dir mal schmecken, Venice. Wenn was nicht passt, komm in die Küche. Ich muss dann mal weiter. Ciao!«
Alex grinst. »Danke, werde ich machen. Auf Wiedersehen!«

Er verlässt das Zimmer. Ich fühle mich deutlich besser. Das Essen schmeckt vorzüglich. Noch nie habe ich bessere Spaghetti bekommen. Das muss ich Alex unbedingt sagen. Ich schmunzele. Alex ist echt nett. Ein sehr guter Kumpel. Seine Einstellung gefällt mir: Er sieht immer das Gute in Menschen.

Ein sehr guter Charakterzug.

Später versuche ich erneut, einzuschlafen und schaffe es sogar. Trotz der Aussicht, dass ich morgen früh wieder Robin gegenüberstehen werde.

Diesmal allein.

Robin BrooksWo Geschichten leben. Entdecke jetzt