6 years

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Ich begebe mich zu Robins Zimmer, mit gemischten Gefühlen. Ich weiß nicht, wie er reagieren wird, aber fest steht zumindest, dass er außer sich sein wird vor Freude. Ich schließe auf und treffe auf Robin, der, wie immer, an seinem Fenster steht. Leider befindet sich das Fenster auf der falschen Seite des Hauses, sonst hätte er seine Schwester schon kommen sehen. »Brooks? Ich habe etwas für dich.« Mit verschränkten Armen dreht er sich um, sein Haar ist zerzaust und der Blick seiner sonst so stechenden Augen stumpf. Er muss nächtelang nicht geschlafen haben. »Komm mit, ich zeige sie dir.« Robin folgt mir ohne ein Wort. Die Treppen hinunter. Den Empfangsraum entlang. Bis zu der Tür, hinter der seine Schwester sitzt. Mit zittrigen Fingern drücke ich die Klinke hinunter. Bis Robin Abby sieht. Und Abby Robin. Die Luft scheint auf einmal elektrisiert zu sein. Die beiden starren sich an, nach sechs Jahren, in denen sie sich kein einziges Mal gesehen haben. Abby steht auf, macht entschlossene Schritte auf ihren Bruder zu und umarmt ihn. Er braucht einen Moment, bevor er diese Umarmung erwidert. Ich stelle mir vor, was sich in seinem Kopf abspielt. Es muss sich für ihn wie ein Traum anfühlen. »Abby...«, wispert er. Abby nickt, den Kopf an seiner Schulter. Sie weint. Auf einmal wird Robin sehr zärtlich. »Abby- hör auf zu weinen. Jetzt ist doch alles gut. Hör auf zu weinen.« Abby versucht zu lächeln, aber sie ist zu aufgewühlt. Ich kann ihr perfekt nachfühlen. Bei der Vorstellung, dass ich Matt sechs Jahre nicht sehen dürfte, zieht sich alles in mir zusammen. Nein. Es ist okay. Abby darf weinen. Robin zieht sie wieder zu sich und lächelt. »Wie geht es dir, Robin?« Abbys Stimme zittert. »Mir geht es eigentlich gut. Nur ab und dann denke ich wirklich, dass ich vor Langeweile umkommen muss.« Er lacht, ganz leise. Glücklich. Abby schnieft und drückt ihr Gesicht wieder an Robins Schulter. »Ich habe dich vermisst. Ich liebe dich.« Robin lächelt, es erreicht seine Augen. Er wirkt vollkommen selig und zufrieden, keine Spur mehr von der Gefahr, die ihn umgibt wie eine Aura. Nur noch er und sie. »Ich dich auch.«
Abby sieht mich nur an und lächelt dann auch. »Danke. Danke, Miss Porter. Sie haben mich unfassbar glücklich gemacht.« Ich nicke. »Das mache ich gerne.«
Die nächste Stunde verbringen wir damit, in dem Büro zu sitzen, zu reden. Über Abbys Leben, über Robins Leben. Über die Welt.
»Erinnerst du dich an die Cake Machine, Robin? Das war doch unser absoluter Lieblingsladen. Wir sind immer heimlich hingegangen und haben uns Süßigkeiten gekauft. Sie ist wieder geöffnet!« Abby scheint während dem Reden förmlich zu lachen. Ihr ist die Freude anzusehen, und auch Robin. »Tatsächlich? Ich weiß noch wie wir damals todtraurig waren, dass sie geschlossen wurde. Der alte Giovanni war eben etwas zu alt für den Job. Und die vielen Kinder.« Abby nickte. »Ja, aber sein Sohn ist inzwischen alt genug, um den Laden zu schmeißen, Al. Wenn du hier raus bist, gehen wir dorthin, einverstanden?«
Robin nickte ihr zustimmend zu.
Ja. Wenn er hier raus ist.

An diesem Abend liege ich in meinem Bett und starre gegen die Zimmerdecke. In meinem Kopf wirbeln tausende von Fragen umher, alle haben mit ihm, Robin Brooks, zu tun. Er war heute so verändert, und wage sogar, behaupten zu können, dass er heute so war, wie er früher war. Bevor er so wurde. Bevor er zu dem Robin Brooks wurde, den ich bewundere und doch gleich fürchte. Es ist wie das Spiel mit dem Feuer. Es ist unheimlich gefährlich, aber viel zu verlockend, als dass man sich von ihm fernhalten könnte.

Am nächsten Tag gehe ich zu Timber. Ich habe sie gestern nur kurz besucht, un nach dem Rechten zu sehen. Aber heute will ich mir mehr Zeit nehmen. Timber ist schon wach, als ich zu ihr komme. »Guten Morgen, Venice.«, begrüßt sie mich mit einem strahlenden Lächeln. »Hey, Timber. Heute bist du mal wieder sehr gut gelaunt.« Sie nickt. »Weißt du, ich glaube, dass ich fast aus meiner Depression draußen bin.« Verwundert sehe ich sie an. »Und wieso denkst du das?«
Timber setzt sich auf ihr Bett und über schlägt die Beine. Ihr Blick ist auf den Boden gerichtet. »Weißt du... normalerweise ist es so, dass ich morgens wie in einem grauen Schleier aufwache. Mit negativem Gedanken. Ich will nicht in den Spiegel schauen, weil ich nicht dem psychischen Wrack gegenüberstehen will, das ich bin. Meine Gedanken kreisen andauernd darum, wer ich bin und wieso ich so bin, wie ich bin, verstehst du? So nichtsnutzig, so... nichts. Als würde mich niemand vermissen, wenn ich nicht mehr da wäre.« Ihr Blick geht kurz in die Leere, bevor sie ihren Kopf hebt und mich wieder anlächelt. »Aber jetzt habe ich das Gefühl, akzeptiert zu werden. Ich fühle mich gut. Meine Einstellung bessert sich mit jedem Tag, wie wenn nach einem langen, kalten Winter die Tage heller und schöner werden. Wie wenn sich die gnadenlose Wolkendecke lichten würde... ich fühle mich wohl.« Erstaunt über ihre metaphorischen Beschreibungen und ihren Enthusiasmus, sage ich kurz nichts. Timber ist erst seit ein paar Wochen in meiner Behandlung. Kann sie sich dann überhaupt so stark verändert haben? Es fällt mir schwer, das zu glauben. »Das ist ziemlich... toll, Timber. Ich freue mich, dass es dir besser geht, wirklich!«
Ich will noch etwas ergänzen, aber Timber unterbricht mich. »Und deshalb habe ich ein Geschenk an dich, Venice.« Ihre Stimme wird auf einmal ganz leise. »Und du musst mir versprechen, die Augen zuzubehalten.« Ich zögere kurz, bevor ich meine Augen schließe. »Bist du bereit, Venice?«, fragt Timber mit einer eigenartigen, hohen Stimme. Was ist hier nur los? »Ja, ich bin bereit.« Keine Sekunde später merke ich, wie mich zwei starke Hände an den Handgelenken packen.

Robin BrooksWo Geschichten leben. Entdecke jetzt