Charlottestown

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Die nächste Woche verläuft ohne weitere Zwischenfälle. Robin ist immer noch der selbe, doch meine Aufmerksamkeit gilt Timber. Ich versuche ihr zu helfen, und nach jedem Mal, das ich mit ihr verbringe, wirkt sie lebendiger. Heute ist jedoch ein besonderer Tag. Nachdem ich mich angezogen habe, eine dunkelblaue Jeans mit einem weißen Wollpullover, laufe ich gut gelaunt in den Korridor der Patienten. Ich schließe Timbers Tür auf. »Guten Morgen, Timber.« Ich schließe die Tür hinter mir. »Und alles gute zum Geburtstag.« Ein Strahlen legt sich auf ihr Gesicht. »Danke!« Ich grinse. »Dann komm mal mit. Bist du warm angezogen?«
Timbers Blick verwandelt sich in Ungläubigkeit. »Wir gehen raus?« Ich nicke. Timber läuft hinter her, durch die Korridore, die Stufen hinab. Vor Mr. Chase' Büro machen wir halt. Ich klopfe an die Tür, was ein dumpfes Hämmern erzeugt. »Ja?« Es ist Melissa. »Hallo Melissa. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich mit Timber wegbin. Gib uns fünf Stunden.« Freudig lächelt Melissa. »Sehr gut. Viel Spaß.«

Draußen fegt uns die eiskalte Luft um die Ohren. Zum Glück schneit es nicht, aber auch das kann sich in jeder Sekunde wieder ändern. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke weiter zu und sehe nach Timber, die tapfer gegen den Wind läuft. Als ich mich wieder umdrehe, werfe ich einen verstohlenen Blick auf Robins Fenster. Es ist leer.
Wir erreichen meinen etwas verranzten Hyundai, den ich schon vor ein paar Schritten geöffnet habe. Sofort setzen wir uns und knallen die Türen zu. Ich starte den Wagen und gleichzeitig die Sitzheizung. Ein Ruckeln bewegt den Wagen und ich lege den Rückwärtsgang ein. Bald sind wir vom Gelände runter und ich bahne mir einen Weg durch die kleinen Wege bis wir endlich auf dem Highway ankommen. »Verrätst du mir wohin es geht?«, fragt Timber scheinheilig und wirkt schon wie ein... ganz normales Mädchen. Ich grinse, während ich den Gang umlege. »Sagt dir Charlottestown etwas?«
Sie denkt nach. »Naja. Kann schon sein. Ich bin mehr im Osten Amerikas aufgewachsen.« Ich nicke und konzentriere mich auf die Straße. Kurz herrscht wieder Ruhe in meinem Auto. »Und was machen wir dort?«
»Weißt du, ich bin in Charlottestown geboren und habe bisher jedes Jahr meines Lebens dort verbracht. Ich kenne die Stadt wie meine Westentasche. Und ich wollte mit dir einfach einen Ausflug dorthin machen.«
Ihre Augen leuchten. »Ich war seit zwei Jahren nicht mehr außerhalb der Anstalt!« Verdattert sehe ich sie an. » Du hast die letzten Jahre nur in deinem Zimmer gesessen?« Sie nickt traurig. »Ja. Man hat viel Zeit zum Nachdenken, wenn man so alleine ist. Sehr viel Zeit. « »Das verstehe ich. Was ist denn alles passiert, während du dort warst?«
»Zwei meiner Pflegerinnen und Therapeutinnen haben Suizid begangen. Mr. Chains versucht mir weißzumachen, dass es wegen dem Druck war, aber ich WEISS dass es Robin war. Zumindest bin ich mir ziemlich sehr sicher.« Ich verliere beinahe die Kontrolle über meinen Wagen. »Robin? Brooks?« Sie nickt. »Genau der. Ich mag ihn nicht. Er macht mir Angst. Er ist so... unheimlich. Weißt du wie ich das meine?«
»Ja. Er ist merkwürdig. Aber ich muss ihn betreuen und meine Maske bewahren. Ich darf ihn nicht das sehen lassen, das mich verletzt. Wenn ich das tue, bin ich unter seiner Gewalt. Und so gut wie tot.« Sie nickt. Und schweigt.
Wir erreichen Charlottestown. Es sieht genauso aus wie immer, schöne Südstaatenhäuser bilden den Vorort der Stadt, heute sind sie von weißem Schnee bedeckt und strahlen dennoch eine vertraute Wärme aus. »Wow... DAS ist Charlottestown?«
»Ja. Schön, nicht?«, schwärme ich. »In diesem Haus müsste der alte Brad wohnen. Ein alter Griesgram, aber je älter man wird, desto mehr wird er zu einem Großvater. Seine Frau ist vor acht Jahren gestorben und er ist für ein halbes Jahr verschwunden. Weltreise.« Sie nickt. »Brad. So heißt mein Onkel.«
Wir durchfahren die Vorstadt. Bald gelangen wir in das Villenviertel. Hier wohnt James. Mein erster Freund. Und mein erster Fehler. Ich stoße ein verächtliches Schnaufen aus. »Was ist?«, will Timber wissen. »Nicht so wichtig. Eine sehr lange Geschichte.«
»Dann erzähl sie mir! Bitte.«
»Das mit James erzähle ich dir wannanders. Aber jetzt fahren wir erst mal zu meinem Zuhause.«
Und beinahe zeitgleich halten wir vor unserem Haus, das früher wie die herumliegenden Häuser in einem früheuropäischem Stil erbaut wurde.
Die weißen Gardinen verdecken die Fenster, ein gutes Zeichen. Das bedeutet, dass Mom zuhause ist. Ich parke den Wagen auf der Auffahrt.
»Steig aus.« Wir laufen zu unserer Haustür und klingeln.

»Hallo, Venice!«

Robin BrooksWo Geschichten leben. Entdecke jetzt