Eins

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Kann man ein Mörder sein, ohne jemanden umgebracht zu haben?, tippe ich ein und lasse meine Finger über der weißgrauen Tastatur schweben. Einzelne Staubflocken haben sich zwischen den Tasten festgesetzt, bei manchen ist die Beschriftung abgenutzt.

Alles in mir weigert sich, die Nachricht abzuschicken und doch lasse ich meinen Finger auf Enter sinken.

xXSlayer tippt ... taucht direkt darauf in der Chatleiste auf, viel schneller als mir lieb ist.

Nervös knete ich meine Finger in den Händen, während lediglich der schwache Schein des Monitors mein Zimmer erhellt.

Ich kenne xXSlayer nicht persönlich, weiß nur, dass er Olli heißt und so alt ist wie ich. Kennengelernt haben wir uns in dem Fantasy-Rollenspiel, das wir beide regelmäßig online zocken. Manchmal fühlt es sich so an, als seien wir Freunde, aber vielleicht ist das nur die Verzweiflung einsamer Nächte.

Wie meinst du?, ploppt die Antwort auf dem Bildschirm auf.

Egal. Vergiss es. Meine Finger fliegen nur so über die Tasten und der Herzschlag in meinen Ohren ist laut genug, um das hektische Tippen und betörend gleichmäßige Summen des PCs zu übertönen.

Eilig schließe ich die geöffneten Programme und fahre den Computer runter. Mit einem Mal ist es dunkel in meinem Zimmer und ich bin alleine. Alleine mit den Gedanken, die ich am liebsten verdrängen würde, alleine mit den Erinnerungen, die noch immer allgegenwärtig sind.

So leise wie möglich tapse ich durch mein Zimmer, als würde ich dabei jemanden stören. Mama schläft noch nicht, von Zeit zu Zeit höre ich sie im Wohnzimmer rumoren. Die Stimmen aus dem Fernseher und das Rauschen der Heizungsrohre untermalen leise die Einsamkeit des Abends.

Ich ziehe meine pinke Kuscheldecke vom Bett und klettere auf die breite Fensterbank. Draußen wird es langsam hell. Nur zögerlich kriecht das Morgengrauen über die spitzen Dächer der Häuser, fast so, als würde es am liebsten fernbleiben wollen, das Städtchen in seiner schützenden Dunkelheit ruhen lassen.

Und doch schreitet es unaufhaltsam voran, wird nicht mehr verbergen können, was in den letzten Tagen und Wochen geschah.

Ich schlinge die Decke enger um mich, wünsche mir, sie könne mich vor all dem abschirmen. Doch das kann sie nicht.

Nicht vor Karina, deren Wimperntusche tränenverschmiert unter den Augen klebte und die mich mit zitternder Stimme anschrie.

»Er hat es für dich getan!«

Nicht vor der Richterin, die mich streng dazu aufforderte, über das zu sprechen, was ich am liebsten vergessen wollte.

»Was können Sie über den Tathergang sagen?«

Nicht vor all den Menschen, die sich aufgebracht vor dem Gerichtssaal versammelt hatten. Jeder hatte eine Meinung, doch in einer Sache waren sie sich alle einig:

»Sperrt den Mörder weg!«

Und schon gar nicht vor Viktor, dessen aufgewühlter Blick für kaum einen Sekundenbruchteil den meinen traf und der nicht nur Brandwunden auf meiner Haut hinterließ, sondern sie gänzlich verätzte.

»Es ist wahr ... ich hab' das getan ... weil ich es tun musste ... versteht ihr?«

Seine Stimme war nur ein Flüstern und doch viel lauter als die aller anderen.

Meine dagegen war längst erstorben, ich brachte kein einziges Wort mehr hervor, ganz gleich, wie viele Fragen mir die Richterin noch stellte.

Ich begann zu zittern.

Ich beginne zu zittern.

Trotz dass ich die Decke enger um mich schlinge, wird mir nicht wärmer. Unten auf der Straße taucht einer meiner Nachbarn auf, er geht zu seinem Auto, das halb auf dem Bordstein parkt. Steigt ein, dumpf ist das Türenschlagen hier oben zu vernehmen, dann startet er den Motor. Um wie jeden Morgen zur Arbeit zu fahren.

Ich wünsche, es wäre leicht zu glauben, dass sich nichts verändert hat, dass auch für mich ein Tag wie jeder andere beginnt. Ein Tag, an dem ich einfach zur Schule gehen und unter der alten Eiche, die ihre ersten Blätter verliert, Viktor treffen würde.

An dem das schiefe, manchmal fast unerkennbare, aber immer liebevolle Lächeln auf seinem Gesicht auftauchen und er die Arme um mich schließen würde. »Guck mal, Sarah«, würde er an meinem Ohr flüstern und ich fühlen, wie er etwas in meine Hand drückt. Ein kleiner Stein? »Das hab ich gefunden. Für dich.«

Aber es ist kein Tag wie jeder andere.

Für Viktor würde er im Gefängnis beginnen.

Für Luisa gar nicht mehr.

Ich springe auf. Lasse die Decke zu Boden fallen und ziehe mir stattdessen meinen Pulli mit dem verwaschenen Metallica-Logo über den Kopf. Ich bin schon die knarrenden Treppen runter und greife nach meinen Turnschuhen, ehe mir bewusst wird, was ich gerade tue. Ziehe die Schlaufe rechts fest, dann links.

Mit einem lauten Knall fällt die Haustür hinter mir ins Schloss. Der Asphalt ist uneben, die Gegend beinahe dunkel, die Umrisse nur schemenhaft. Ich renne los, mit Schritten, die immer größer werden.

Vorbei an der Bäckerei, hinter deren Fenstern die Lichter brennen, und dem Dönerladen, der noch lange nicht öffnet. Bald erreiche ich den Ortsrand und laufe an der Landstraße entlang. Vereinzelt fährt ein Auto an mir vorbei, der Gestank der Abgase steigt mir in die Nase, der Motorenlärm verklingt wieder. Zurück bleibt nur das Pfeifen von ein paar Vögeln und des Windes, gegen den ich anrenne.

Schließlich verlangsamen sich meine Schritte.

Außer Atem schnappe ich nach Luft, die noch so kühl ist, dass sich meine Lunge zusammenzieht. Vom Morgentau ist das Gras feucht. Die Landstraße habe ich hinter mir gelassen, stattdessen folgte ich den gewundenen Wegen den Hügel hinauf.

Wenn ich zurückschaue, öffnet sich mein Blick, umrahmt von Ästen und Blättern, auf das Städtchen, in dem endgültig ein neuer Tag anbricht. Nur langsam wende ich mich dem zu, was sich vor mir befindet.

Dem Ort, dessen Abend wohl ewig andauern wird.

Es ist ein altes Fabrikgemäuer, das fast majestätisch vor mir liegt. Efeu wuchert an den Mauersteinen nach oben, an manchen sind Spuren von Ruß zu sehen. Irgendwann im vorletzten Jahrhundert kam es hier zu einem Aufstand der Arbeiter, in dessen Verlauf die Fabrik angezündet wurde.

Das hat mir Viktor erzählt. Die längst vergessenen Geschichten haben ihn immer interessiert, vor allem von der alten Fabrik war er ganz begeistert.

Noch heute sehe ich ihn vor mir sitzen, irgendwo im hohen Gras auf dem Vorplatz, mit leuchtenden Augen und raumgreifenden Gesten erzählend, wie die Fabrik ihren Aufschwung erlebte und nach der Jahrhundertwende immer mehr zerfiel.

Von der Wut der Arbeiter, die einen schweren Alltag an den Maschinen zu frönen hatten, und der Gier der Industriellen. Wir stellten uns vor, wie es wäre, hätten wir damals schon gelebt. Wenn wir zusammen mit den anderen für Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft hätten und doch gescheitert wären. Denn der Aufstand wurde mit aller Gewalt niedergeschlagen.

Die alte Fabrik war schon immer ein Ort, an dem Träume begraben lagen, doch wir waren zu blind um zu sehen, dass auch unsere dort eines Tages unter der Erde liegen würden.

Noch heute sehe ich Viktor vor mir, irgendwo dort unten, das Funkeln in seinen Augen ist erloschen, die Hände liegen ruhig in seinem Schoß. Auch Luisa ist da. Sie schaut mich mit einem seltsam starren Blick an und ich verstehe zu wenig, um die Wahrheit zu erkennen.

Sehe seinen Mund die fast selben Worte formen, die mir auch Karina an den Kopf donnerte.

Er hat es für mich getan.

ViktorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt