Fünf

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Der Septemberwind weht nicht nur ein paar abgefallene Blätter über die Straßen, sondern auch eine Zeitung, die an den Seiten schon ein bisschen durchnässt ist. Dazu zerfetzt und längst nicht mehr vollständig. Ich halte inne.

Viktor wäre jetzt stehen geblieben und hätte sie aufgehoben.

»Warum?«, hätte ich gefragt. »Warum tust du das? Das ist doch ... Müll eigentlich. Oder?«

Ich sehe ihn vor mir, wie er die Zeitung aufgeschlagen und ordentlich wieder zusammengefaltet hätte.

»Ich denke gerne darüber nach. Was die Geschichte dahinter ist. Was sie zerstört hat, warum sie ist, wie sie ist«, hätte er mir erklärt. »Mit Menschen ist es doch genauso. Es steckt so oft viel mehr dahinter, als wir sehen können.«

Früher wäre ich weitergegangen, doch heute bücke ich mich und nehme die Zeitung in meine Hand, genauso, wie Viktor es getan hätte. Feucht und weich fühlt sich das dünne Papier zwischen meinen Fingern an.

Er maß selbst den kleinsten Dingen unglaublich viel Bedeutung bei. In der Banalität fand er Einzigartigkeit und Schönheit entdeckte er nur dort, wo all die anderen nicht mal Hässlichkeit, sondern überhaupt nichts sahen.

Wie kann so ein Mensch dazu fähig sein, das Leben eines anderen zu nehmen?

Es ist unmöglich.

Und doch wahr.

Mein Herz verkrampft sich, dann knülle ich die Zeitung zusammen, ohne einen einzigen Blick hineingeworfen zu haben. Gewaltvoll, ohne ihren Wert zu schätzen. Stopfe sie in den nächsten Mülleimer, ohne je ihre Schönheit erkannt zu haben.

»Hast du Hunger, Sarah?«, begrüßt mich meine Mutter mit einem Lächeln, als ich zu unserem Haus hereinkomme.

»Ja, schon«, bejahe ich. Überrascht werfe ich einen Blick zum Herd, auf dem ein paar Töpfe stehen und den leckeren Geruch von Bratkartoffeln und Knoblauch verbreiten. Es ist lange her, dass sie sich die Mühe gemacht hat, mir etwas zu essen zu kochen.

Ich lasse mich auf der Eckbank mit den gemütlichen, aber längst ausgesessenen Kissen nieder.

»Ist gleich fertig«, verkündet Mama und holt zwei Teller aus den Küchenschränken, auf denen ein paar Bilder kleben. Ein paar Kinderfotos von mir, Zeichnungen, die ich mal malte, und ein paar verblichene Postkarten von Oma und anderen Verwandten.

Sie stellt die zwei dampfenden Teller auf den Tisch, nimmt Besteck aus der Schublade und lässt sich ebenfalls nieder. »Wie war's in der Schule?«

»Ja, war okay.« Ich werfe ihr ein kurzes Grinsen zu und schiebe ein paar Bratkartoffeln auf meine Gabel.

Ein paar Augenblicke lang essen wir schweigend. »Schmeckt gut«, sage ich, übertöne endlich die Stille.

»Ehrlich?«, fragt sie nach und lächelt. Es ist ehrliche Freude, die ich in ihren Augen sehe. Sie würde aussehen wie früher, mit ihren Haaren, die noch immer hellblond gefärbt sind und den vollen Lippen, wären da nicht die verlebten Gesichtszüge und die tiefen Falten. Sie ist noch jung, jünger als andere Mütter, und doch wirkt sie so alt.

»Ja, echt.«

»Ich ... ich möchte mit dem Trinken aufhören. Ich möchte das wirklich schaffen, ich hab' mir das fest vorgenommen. Weißt du, es ist mir doch so wichtig für dich da zu sein ...« Am Ende hin wird Mamas Stimme immer brüchiger. Sie verstummt und greift nach der Gabel neben ihrem Teller, umschließt sie fest mit ihren Fingern, deren Nägel rot lackiert sind.

»Das ist schön.« Ich räuspere mich und sehe ebenfalls auf mein Essen.

Wie oft hat sie mir schon versprochen, mit ihrer Sauferei aufzuhören und wie oft hat sie es wirklich geschafft? Kein einziges Mal. Meistens waren all die guten Vorsätze schon am Abend wieder vergessen, wenn sie sich Wein einschenkte.

»Nur ein Gläschen, mehr nicht.«

Sagte sie auch beim Zweiten.

Und dem Dritten.

Als ich meinen Computer hochfahre und es mir auf meinem Schreibtischstuhl gemütlich mache, bereit die nächsten Stunden in der Fantasywelt mit ihren Bösewichten und Helden zu versinken, vibriert mein Handy. Verwundert ziehe ich meine Augenbrauen zusammen und hole das Gerät aus meiner Hosentasche. Wer schreibt mir schon?

Morgen ist die beerdigung von luisa. 18 uhr. Wollt dir nur bescheid geben, lese ich auf dem Display. Die Nachricht stammt von Annabelle, mit der ich bis auf eine Gruppenarbeit in Deutsch nie wirklich was zu tun hatte. Sie gehörte zu den Menschen, die dann schwiegen, wenn die anderen auf mich losgingen und die kaum einen Ton rausbrachten, wenn sie mit mir alleine waren - vor lauter schlechtem Gewissen.

Ist es eine Falle? Nur ein idiotischer Plan, um mir wieder wehzutun? Wollen mir die anderen auflauern, findet die Beerdigung gar nicht dann statt?

Oder möchte Annabelle einfach nett sein? Denkt, dass auch ich von Luisa Abschied nehmen möchte?

Versucht sie, irgendwas aus den letzten Jahren wieder gut zu machen?

Mein Blick fällt auf die bunt gestrichenen Wände meines Zimmers, an denen zwischen unzähligen Postern meiner Lieblingsbands auch Fotografien von Viktor und mir hängen.

Obwohl ich schon oft darüber nachgedacht habe, sie abzuhängen, konnte ich mich nie dazu überwinden, auch die letzten Erinnerungen an meinen besten Freund aus meinem Alltag zu entfernen.

Ich kann ihn nicht einfach aus meinem Leben streichen, nicht so tun, als hätte es ihn nie gegeben.

Wenn doch nur Viktor hier wäre ... mit ihm hätte ich über all meine Gedanken, über all meine Zweifel sprechen können. Er hätte Antworten gehabt, Erklärungen gefunden.

Ohne ihn bin ich so schrecklich verloren.

Ausgerechnet er, durch den ich mir überhaupt erst Gedanken machen muss, ob ich zu Luisas Beerdigung gehen soll oder nicht.

ViktorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt