Neun

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Es ist nur ein Brief, fast schon federleicht, der in meinen Händen liegt, und doch wiegt er schwer wie nur wenig anderes. Drückt mich hinab auf den Boden und quetscht mich durch das Abflussgitter.

In unscheinbarer Computerschrift ist darauf die Adresse der Jugendstrafanstalt zu lesen, darunter Viktors Name.

Noch immer stehe ich vor unserem Haus und drehe den Brief in meinen Händen, unfähig mich zu regen. Zusammen mit ein paar Prospekten hab ich ihn eben aus unserem Briefkasten geholt.

Warum schreibt er mir? Oder tut er das überhaupt, steht vielleicht etwas völlig anderes in diesem Brief?

Ein paar Vögel pfeifen, irgendwo läuft ein Motor, darüber legt sich die Unterhaltung meiner Nachbarinnen. Die alte Liesel steht am Fenster und spricht mit einer Frau auf der Straße, die ich nicht sehen kann, weil zwei Bäume meine Sicht verdecken.

Am liebsten würde ich den Brief wegschmeißen, ohne ihn je gelesen zu haben, und doch wünsche ich mir nichts sehnlichster, als ihn einfach aufzureißen.

»Und auch die Geschichte mit dem Mädel von da drüben, so ein Jammer!«, vernehme ich, als ich mich dazu überwinden möchte reinzugehen. »Was man die Tage wieder alles hört ...«

Ich halte inne. Haben die beiden mich nicht gesehen?

Was die andere Frau antwortet, kann ich nicht verstehen, dafür spricht sie zu leise.

»Erinnerst du dich nicht an den Jungen, der früher immer bei ihr war?«, fuhr Liesel fort. »Der, der immer so blass war. Der Russe. Er war das. Er hat das junge, unschuldige Mädchen umgebracht, einfach so!«

»Das ist ja unfassbar, dass sich dieses Ausländerpack auch hier schon rumtreibt. Früher, da war das nicht so, da wär' so etwas nicht passiert!«, erwidert die andere Frau entrüstet. Ihre Stimme kommt mir bekannt vor, zuordnen kann ich sie nicht.

»Ich kann das nicht verstehen. Er war doch immer so ein netter Junge! Mir hat er leidgetan. So dünn, als würde er zuhause nie etwas zu essen bekommen ... aber so etwas, das ist wirklich ... ne, das geht nicht.« Die Verständnislosigkeit in ihrer Stimme klingt bis zu mir rüber.

»Ich sag's dir, in paar Jahren ist der wieder auf freiem Fuß und dann bringt er lustig das nächste Mädchen um!«

Meine Finger schließen sich fest um den Brief, zerdrücken das dünne Papier. Der Schweiß meiner Hände hinterlässt Abdrücke darauf.

War Viktor wirklich dazu in der Lage? Noch einen Menschen umzubringen?

Unmöglich.

Tja, genauso wenig hatte ich ihm zugetraut, überhaupt einen Mord zu begehen ...

»Ich hoffe, die sperren den lang genug weg, vielleicht ändert er sich dann ja.«

»Meine Liebe, du bist gut«, lacht die andere. »Die gehen doch in unseren Gefängnissen viel zu lasch mit denen um. Da ist es doch schade, dass wir keine Todesstrafe mehr haben! Das hat so einer doch wirklich verdient. So einer ändert sich nicht.«

Ich drehe mich ruckartig um. Ich will es nicht hören. Mir nicht mehr vor Augen führen, was Viktor für ein Monster ist und mich der Frage stellen, ob die Frau vielleicht sogar recht haben könnte ...

Eilig durchquere ich unseren verwilderten Vorgarten und stoße die Tür auf, die ich eben nur angelehnt habe. Die Treppe hoch, rein in mein Zimmer, das mir in diesem Moment wie ein schützender Bunker vorkommt.

Ich lege eine Platte von Metallica auf und überspringe einen Song nach dem anderen, bis die schnellen Anfangstakte von Blitzkrieg erklingen. Ich drehe den Lautstärkeregler so weit hoch, dass die Musik meine Gedanken übertönen könnte und es doch nicht schafft.

Erst abends überwinde ich mich dazu, den Brief zu öffnen. Draußen windet es und der Regen trommelt auf mein Dachfenster, hinter dem sich immer wieder dunkle Wolken vor den Vollmond schieben.

Als ich den Brief aus dem Umschlag herausziehe, fällt ein getrocknetes Gänseblümchen heraus. Ein, zwei Blätter rieseln auf meine Matratze mit dem dunkelroten Bezug. Das kleine, so unschuldige Blümchen zerreißt mein Herz, während ich es anschaue. Es ist ein so typisches von Viktors Geschenken, die wohl keiner als solche wahrgenommen hätte.

Meine Finger zittern, als ich das Blümchen vorsichtig auf die Matratze lege und dann das dünne Papier auseinander falte. Immer und immer wieder lese ich die Worte, die Viktor in seiner ordentlichen Handschrift aufgeschrieben hat.

Liebe Sarah,

ich hoffe, es geht dir gut (wie dumm von mir, das zu schreiben - ich weiß doch, dass es dir nicht gut geht). Ich denke oft an dich und ich vermisse dich so sehr, auch wenn es meine eigene Schuld ist, dass wir uns nicht mehr sehen können.

Ich dachte, ich könnte alles besser machen, doch ich habe so schrecklich versagt dabei. Bei der Verhandlung, da habe ich die Blicke der anderen bemerkt, wie sie dich angesehen haben. Ich weiß, dass sie auch dir die Schuld geben.

Hör nicht auf sie, Sarah.

Es war meine Tat, meine Entscheidung, ganz alleine meine Schuld. Mach dich nicht fertig deswegen, du kannst dafür nichts.

Ich habe lange überlegt, ob ich dir überhaupt schreiben soll. Du willst das bestimmt nicht, nach allem was passiert ist.

Und doch wollte ich dich fragen, ob du mich besuchen kommen möchtest.

Du musst mir nicht zurückschreiben. Du musst auch nicht vorbeikommen, wenn du das nicht willst und du lieber mit der Sache abschließen möchtest. Vergiss mich, wenn du mich lieber vergessen willst. Aber weißt du, ich würde mich unendlich freuen, dich nochmal sehen zu können. Wenn ich irgendwie gutmachen könnte, was ich dir angetan habe.

In Liebe,

dein Viktor

ViktorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt