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Genervt und ächzend schleppte sie sich auch am nächsten Tag wieder zur Schule und stellte fest, dass sie, warum auch immer, viel zu früh angekommen war. So früh, dass der Pausenhof, die Flure und sämtliche Klassenzimmer wie leergefegt und ausgestorben waren.
Sie murrte: „Ich hätte locker noch schlafen können … Vielleicht sollte ich das auch.“
Langsam setzte sie sich in Bewegung und erklomm die Stufen in die oberen Geschosse.
Als sie im obersten Stockwerk angekommen war, blieb sie stehen und atmete erst einmal tief ein.
Die Luft hier war abgestanden und alt, doch genau das gefiel ihr so. Nur selten verirrte sich ein Schüler hierher, da diese Etage bereits seit geraumer Zeit nicht mehr genutzt wurde, was es perfekt für sie machte. Hier konnte sie in Ruhe und Frieden ein wenig ausspannen, vielleicht sogar schlafen.
Lächelnd schritt sie nun den Flur entlang und beobachtete, wie die Morgensonne durch die Fenster fiel und die einzelnen Staubpartikel beleuchtete.
Es wirkte beinahe magisch, wie die kleinen Teile im Licht tanzten und gemächlich zu Boden glitten.
Sie lief auf die letzte Tür am Ende des Korridors zu und als sie vor dieser zu einem Halt kam, konnte sie etwas vernehmen.
Es war ganz leise, kaum hörbar, doch es klang wunderschön.
Es war eine einfache Melodie, die so traurig erhallte, dass sie sich augenblicklich bedrückt fühlte.
Sie schloss die Augen und ließ die Musik auf sich wirken, genoss sie sogar; bevor sie von purer Neugierde eingenommen wurde.
Wer war das? Wer konnte so wunderschön spielen?
Es war ein Klavier, so viel konnte sie mit ihren bescheidenen Musikkenntnissen ausmachen.
Voller Vorsicht legte sie ihre Hand auf die alte Türklinke und drückte diese herunter. Sie stemmte sich gegen die Tür und öffnete diese einen spaltbreit.
Sofort ertönte die Musik lauter und sie konnte eine Silhouette wahrnehmen. Jemand saß mit dem Rücken zu ihr und spielte.
Langsam schlich sie in den Raum und verschloss die Tür genauso lautlos hinter sich, wie sie sie geöffnet hatte. An der Wand stehend musterte sie nun die Person vor sich. Sie war männlich, groß gewachsen und gut gebaut. Das pechschwarze Haar verschluckte die Strahlen der Sonne und glitzerte geheimnisvoll auf.
Plötzlich verstummte das wunderschöne Lied in einem grauenhaften Akkord, der sie zusammenzucken ließ.
„Verschwinde!“, blaffte sie nun auf einmal eine raue Stimme an.
Sie stockte. Diese Stimme … Diese Stimme war doch … ?!
Jetzt fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, die Stimme, die Statur und das Haar.
Nur eine einzige Person auf dieser Welt sah so aus.
Min Yoongi.
Sie hatte das starke Bedürfnis ihre Stirn gegen die Wand zu rammen und dann zu verschwinden und nie wieder aufzutauchen.
Wieso musste gerade er, von allen möglichen Leuten, hier sein?
Warum nicht jemand anderes?
Warum war sie überhaupt hergekommen?
Warum war sie heute nicht einfach Zuhause geblieben?
So in die Fragen versunken, blieb sie stumm, was Yoongi hingegen als pure Provokation auffasste. Blitzartig stand er auf, drehte sich um und giftete währenddessen: "HEY! Ich habe mit-..."
Doch als er sah, wen er da vor sich hatte, verstummte er sofort und seine Augen weiteten sich.
"(D/N)", hauchte er leise, doch fing sich sofort wieder und knurrte sie dann an: "Was machst du hier?"
Sie schaute auf und ihre Stirn runzelte sich, als sie sagte: "Das könnte ich dich genauso gut fragen."
"Ich bin jeden Tag hier."
Sie stockte. Jeden Tag? In diesem Raum? So schön und beruhigend es hier auch war, es war einsam. Einsam und schwermütig.
Und dass er tagein tagaus seine Zeit hier zubrachte, stimmte sie traurig. So etwas hatte selbst er nicht verdient.
"Warum?", fragte sie unvermittelt.
Er schien irritiert über ihre Frage zu sein.
"Es gefällt mir", murmelte er.
"Aber es ist so einsam", stellte sie bedrückt fest und bewegte sich.
"Ich mag die Einsamkeit", flüsterte er und schaute auf sie herab. Sie stand nämlich genau vor ihm.
"Selbst wenn ... Jeder braucht ab und an einmal Gesellschaft", ließ sie verlauten.
"Dann leiste du sie mir", hauchte er.
"Yoongi", säuselte sie still und legte ihre Hand voller Bedacht auf seine muskulöse Brust.
Er schwieg und setzte seine eigenen Hände auf ihrer Taille ab und zog sie an sich.

"Spiel' für mich", bat sie ihn.
Er regte sich.
"Meinst du das ernst?", hakte er unsicher nach.
Sie lächelte ihn an.
"Natürlich."
Er löste sich widerwillig von ihr und nahm die vorherige Pose auf dem Hocker ein. Dann legte er seine Finger auf die Tasten, atmete tief durch und begann zu spielen.
Noch immer ertönte die Melodie melancholisch, doch diesmal hatte sie einen fröhlicheren Unterton.
Sie hatte den Verdacht, dass die Lieder, die er spielte, seine derzeitige Gemütslage darstellten.

Ein isolierter Junge spielte in einem verlassenen Zimmer ein altes Klavier.
Ihr Herz schmerzte.
Selbst wenn er sie in den letzten Wochen links liegen gelassen hatte, das hier, das, was er mit Sicherheit nur für sie spielte -zur Hölle nochmal, sie war sich sogar hundertprozentig sicher, dass so gut wie niemand außer ihr wusste, dass er Klavier spielen konnte- war er.
Das musste sein wirkliches Ich sein und sie musste zugeben, dass es wunderschön war.
Zögerlich trat sie hinter ihn und legte langsam ihre Arme um ihn. Ihren Kopf ließ sie auf seiner rechten Schulter ruhen und betrachtete ihn.
Seine langen, feinen Finger tanzten rapide über die Tasten, in einer ihr unbekannten Abfolge, weiß, schwarz, weiß, schwarz, weiß, weiß, weiß und ließen die wunderbaren Töne erklingen.
Seine Unterarme, die von Adern durchzogen waren, bewegten sich leicht mit.
Ihr Blick glitt hinauf zu seinem Hals, wo sie seinen auffallenden Adamsapfel in Augenschein nahm, der sich gelegentlich auf- und abbewegte, über seinen hervorstechenden Kieferknochen bis hin zu seinem Mund, den er in seiner Konzentration leicht geöffnet hielt.
Hier blieben ihre Augen stehen; seine wohlgeformten Lippen wirkten so anzüglich und als seine Zunge in einer kleinen, geübten Bewegung seine Unterlippe befeuchtete, schluckte sie schwer.
Schweren Herzens riss sie ihren Blick von ihnen los und wanderte ganz nach oben zu seinen Augen, die durch seine geschlossenen Lider verdeckt waren.
Sie flatterten etwas und sie nahm wahr, wie er seinen Kopf leicht in den Nacken legte.
Ein durch und durch sinnlicher Anblick.
Ihr Atem stockte und ihr Herz klopfte kräftig.
Ihr wurde schwindelig und sie verstärkte ihren Griff um ihn.
"Du bist so atemberaubend", wisperte sie ihm zu und drückte ihre Lippen kaum spürbar gegen seine Ohrmuschel.
Er erschauderte und hielt inne.

© cremo

Min Yoongi X Reader (gang au)Where stories live. Discover now