Kapitel 26

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Out Of Reach - Sanna Nielsen

Alessia Williams, Freitag, 22. Juli, London Borough of Hunslow 

»Archie?« Ich öffnete die Tür zum Zimmer meines Sohnes einen Spaltbreit und steckte den Kopf hinein. Er saß völlig vertieft in einem Comic auf seinem Bett und knabberte an seinem Daumennagel. Sofort sah ich mich dazu genötigt, ihn daran zu hindern. »Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht an deinen Nägeln kauen sollst.«

Er hob den Blick und sah mich aus seinen ernsten, klugen Augen herablassend an. Auf eine süße Art, die lediglich kleinen Kindern zu eigen ist. »Das ist der Stress«, sagte er überzeugt. 

»Ach ja?« Ich gab meine unbequeme Haltung auf, schlüpfte durch die Tür und setzte mich zu Archie. »Was stresst dich denn so?« Ich griff nach seinem Comic und blickte auf das Cover. »Lucky Luke, hm?«

»Nein, der nicht.« Nonchalant nahm er das abgegriffene Heft wieder an sich und blätterte konzentriert, bis er die richtige Seite gefunden hatte. Ich musterte ihn staunend. 

Ich hatte Comics noch nie etwas abgewinnen können, weshalb ich mich immer wieder aus Neugier fragte, was daran so faszinierend war. Ich hatte es bis heute nicht herausgefunden. Vielleicht lag es aber auch einfach an der Tatsache, dass ich nicht gerne las. Meine letzte Lektüre war ein Buch, das ich an der High School hatte durchnehmen müssen. 

»Was dann?« Ich rutschte näher an Archie heran und seufzte. »Wenn etwas nicht okay ist, dann musst du mir das sagen, denn ich bin deine Mommy und werde dir immer helfen. Ehrenwort.«

Als er das nächste Mal zu mir aufblickte, schwammen in seinen Augen Tränen. Mir stockte förmlich der Atem. »Was ist los?« Mein Herz hämmerte wie wild in meiner Brust. Hatte ich etwas so offensichtlich Verstörendes in Archies Leben übersehen? Was war ich denn für eine Mutter?

Er fuhr sich mit dem Ärmel über die tränennassen Wangen und schniefte laut. Er wollte sich unbedingt zusammennehmen, aber ich würde ihm zeigen, dass er das nicht musste. Ich würde...

Ohne weiterzugrübeln, nahm ich ihm den Comic aus den kleinen Händen und legte ihn auf den Nachttisch. Anschließend zog ich meinen Sohn in meine Arme und ließ ihn weinen. Sein Körper zuckte immer wieder, doch ansonsten blieb er erschreckend still. Er war viel zu ernst für einen Siebenjährigen. 

Nachdem sein Weinkrampf sich ein wenig gelegt hatte, brachte ich ein bisschen Abstand zwischen uns, damit wir uns ansehen konnten. Ich hatte ihn schon oft genug auf diese Weise durchschauen können. Vielleicht auch diesmal. 

»Sag mir jetzt bitte was passiert ist. Hast du Probleme in der Schule?« Ich wusste ziemlich gut, wie grausam Kinder sein konnten. Auch die jüngsten. Ich arbeitete seit Jahren in einer Kindertagesstätte. »Sei ehrlich, Archie.«

»Es ist wegen meines Vaters.«

Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen. Das Thema Vater wurde in unserem Haushalt nie angesprochen. Von niemand. Dafür hatte ich gesorgt. 

»Was ist mit No-« Ich bremste mich rechtzeitig. »...deinem Vater?«

»Martin hat mich heute als einen Hu...Hur...« Er dachte angestrengt nach.
»Als irgendeinen Sohn bezeichnet. Weil ich keinen Vater habe. Ich weiß, dass er mich beleidigt hat, die anderen haben gelacht.« Er schluckte und wich meinem Blick aus.
»Das hat mich verletzt.«

Ich erstarrte. Hurensohn. Dieser kleine Bastard, dieser verfluchte Dreikäsehoch, hatte mein Baby als einen Hurensohn bezeichnet. Weil er von einer allein erziehenden Mutter aufgezogen wurde. Wahrscheinlich kannte er nicht einmal die Bedeutung dieser Beleidigung und trotzdem...verspürte ich eine gewaltige Lust, ihm ordentlich in den Hintern zu treten. 

»Hör mir gut zu, Archie«, sagte ich schließlich mit fester Stimme und blickte ihm tief in die Augen. »Ich kläre das. Mommy wird das klären, okay? Er wird dich nicht noch einmal so nennen, dafür sorge ich.« Selbst wenn ich seine verdammten Eltern aufsuchen musste. Ich würde es tun. Archie war mein Ein und Alles und ich konnte nicht zulassen, dass er schikaniert wurde. Zu alledem wegen mir. Und seinem Erzeuger. 

Nein, Alessia, schalt ich mich. Dich trifft keine Schuld. Noel hat dich geschwängert sitzenlassen. Du hast immer bloß versucht, aus allem das Beste zu machen. Unbeachtet der Konsequenzen. Du kannst nichts dafür. 

»Okay«, erwiderte Archie bloß und umarmte mich noch einmal kurz, worauf er wieder nach dem Heftchen griff. Erleichterung durchströmte mich. »Danke, Mommy.«

»Bedanke dich nicht.« Ich erhob mich, spürte die Wut noch immer an meinen Eingeweiden nagen. Gott, wenn ich diesen winzigen Hosenscheißer in die Finger bekam... »Ich gehe kurz zu Meghan rüber, okay? Wenn du etwas brauchst, klingel einfach bei ihr, ja? Oder klopfe.«

Er nickte mir geistesabwesend zu, wieder völlig in seinen Comic vertieft. 

Ich küsste ihn auf den Kopf und verließ den Raum. Ich musste wirklich wieder runterkommen, sonst würde ich irgendetwas kaputt machen, ganz sicher würde ich das. 

Meghan Moore, Freitag, 22. Juli, London Borough of Hunslow 

»Und?«, erkundigte ich mich seufzend.
»Schmeckt's?«

»Nee«, meinte Harvey mit vollem Mund.
»Ich hab nur bereits zwanzig verputzt.« Er grinste und nahm eine weitere Waffel vom Stapel. Ich würde morgen in einem Supermarkt einkaufen müssen, es war kaum noch etwas übrig. Wenn Harvey zum Essen kam, war das ein trauriger Normalzustand. 

»Wolltest du mir keine Standpauke halten?«

Er hob die Augenbrauen. »Das ist nicht witzig. Wirklich nicht. Ich werde nur noch das hier zu Ende bringen und dann bist du an der Reihe, glaub mir, das wird unschön...«, drohte er spielerisch und biss herzhaft in die Waffel. 

»Dann brauche ich wohl etwas Stärkeres. Willst du auch ein Glas Wein?« Ich stand vom Küchentisch auf und griff nach einem meiner Billigweine. 

»Dir ist bewusst, dass der Fusel widerlich ist?«

»Ja, aber er verfehlt seine Wirkung dennoch nicht. Willst du oder willst du nicht?« Ich sah Harvey fragend an. 

Er lenkte sofort ein. »Wenn du es denn unbedingt nötig hast, klar.«

»Wir werden ja sehen, wer von uns beiden es heute noch nötiger haben wird«, murmelte ich leise und holte zwei blank polierte Gläser aus einem der Schränke. 

»Hast du was gesagt?«, fragte Harvey, der meine Andeutung nicht verstanden hatte. Ich lachte leise. »Nein, keineswegs.«

Er zuckte die Schulter und leerte seinen Teller. Gerade als er den Geschirrspüler anwerfen wollte, klopfte es zögerlich an der Tür. Ich runzelte die Stirn. 

»Erwartest du Besuch?« Es war nicht schwer zu erkennen, worauf Harvey hinauswollte. 

Ich verneinte seine Frage und ging in Richtung Tür. »Keine Sorge, Großer. Wäre das Zachary, würde er nicht bloß klopfen.« Hoffentlich gab ihm das zu denken. 

Langsam öffnete ich die Tür und blickte in Alessias hübsches Gesicht, das von hektischen roten Flecken übersät war. Sie kaute auf ihrer Unterlippe und wirkte alles in allem sehr unruhig. »Kann ich kurz hereinkommen? Bitte. Ich muss mit jemand reden.«

»Natürlich, Al. Sag mal, was ist denn los?«, fragte ich alarmiert und ließ sie herein. Ich machte mir Sorgen. »Du siehst echt aufgebracht aus.«

»Oh, das bin ich auch, das kann ich dir versichern«, antwortete sie ehrlich und blieb mitten im Raum stehen, als sie Harveys Blick kreuzte. Die Wut, die gerade noch in ihren Augen gelodert hatte, verflüchtigte sich. Sie sah wie das sprichwörtliche Reh aus, das von Scheinwerfern auf einer Straße erfasst wurde. 

Ich ging an ihr vorbei zur Küche und holte ein weiteres Glas aus dem Schrank. »Mach es dir bequem, Al. Dir wird der Wein sicher ebenfalls guttun.«

-

Hallo. Wie ergeht es euch? Morgen ist Freitag. Just sayin'. 

Alessia trifft wieder auf Harvey. Hach. 

(Liken und kommentieren führt nur in sehr seltenen Fällen zu Vergiftungen. Also: I'm asking for feedback, dear friends and enemies.)

Mel xxx 

Casual SexWhere stories live. Discover now