Kapitel 1 - Das soll meine neue Stadt sein?

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Meine Haare gehen mir bis zur Hüfte. Sie sind lang, gelockt und kastanienbraun. Ich werfe sie wie in Zeitlupe nach hinten und die Locken antworten mit einem auf und ab Wippen. Meine Augen strahlen wie der hellblaue Himmel an einem warmen Sommertag.

Jeder liegt mir zu Füßen, möchte meine Freundin sein. Die Jungs stehen Schlange. Umgarnen mich und machen mir den Hof.

Scheinwerfer begleiten mich auf dem roten Teppich zu meinem Abschlussball. Mein wallendes goldenes Haute-Couture-Kleid von dem renommierten Chefdesigner von Chanel, Karl Lagerfeld, der es natürlich nur für mich maßgeschneidert hat und ich auf dem Weg zum wichtigsten Abend meines Lebens.

Ich funkele wie der hellste Stern am Himmel. Blitzlichter verfolgen mich, versperren mir die Sicht auf all meine Fans.

„Grace, aufwachen!" Die Stimme meiner Mutter hallt zu mir durch. Ich nehme den Blick vom Autofenster. Mal wieder bin ich in meinen Gedanken versunken. Nein, mein Abschlussball steht nicht bevor und mit Karl Lagerfeld bin ich weder befreundet, noch habe ich jemals ein Kleid von ihm besessen.

Das strahlend weiße Lächeln meiner Mutter scheint mir entgegen. „Was ist los?" frage ich ein wenig überfordert. Ihr erwartungsvoller Blick versucht mir etwas zu sagen, aber ich verstehe es nicht.

„Wir sind gleich da." Freude schwingt in ihrer Stimme mit und sie sieht aus wie ein kleines Kind auf dem Jahrmarkt.

Anstatt meinem Traum nachzugehen und irgendwann ein großer Star zu werden, sitze ich in unserem Familienwagen, einem grauen Toyota Forerunner und bin auf dem Weg in eine ziemlich kleine Vorstadt.

Könnte ich singen, tanzen oder vielleicht schauspielern, wäre ich sicherlich schon längst die Partnerin von Johnny Depp. Aber das bin ich nicht und meine Eltern sind auch leider nicht die Kardashians.

Ich lasse den Blick wieder nach draußen schweifen und schaue geradewegs auf das Ortsschild unserer neuen Heimat. 

Bloomfield steht in weißen kalligrafisch geschriebenen Lettern auf hellblauem Hintergrund. Das ganze Schild besteht aus einem verschnörkeltem hellblauem Stück Holz mit vergoldetem Rand. Kleine rote und gelbe Blumen füllen jede einzelne Lücke. Also für mich sieht dieses Schild ziemlich geschmacklos aus.

Meine Eltern sind auf die wundervolle Idee gekommen einen Ortswechsel vorzunehmen. Und ausgesucht haben sie sich dieses nette, kleine Örtchen.

Bloomfield, ein kleines Städtchen im Schatten Hartforts. Ich weiß wirklich nicht, wie meine Eltern auf so eine Schnapsidee gekommen sind. Von einer Vorstadt in eine noch viel kleinere zu ziehen. Meine Mutter will dadurch einen Entwicklungsschub in uns hervorrufen. Sie als Pädagogin weiß natürlich bescheid. Der Unterschied: mein Bruder und ich sind nicht mehr zwischen sechs und zehn, also außerhalb ihres Aufgabenbereichs als Kindergärtnerin.

Und zu allem Überfluss hat mein Vater natürlich auch ein Geschäft für seine neue Praxis gefunden, in der er in den nächsten Tagen, die Zähne unserer wenigen Nachbarn von gelbem Zahnbelag befreien wird.

Anstatt dieses Prozedere auf in zwei Jahren zu verschieben, nachdem ich meinen Abschluss in der Tasche habe, setzen sie mich dieser Herausforderung entgegen. Es ist nie leicht, die Neue zu sein, wobei ich auch nie in dieser Situation gewesen bin.

Es kam wie aus dem Nichts. Urplötzlich hieß es: Wir ziehen um. Zu allem Überfluss hat mein älterer Bruder Jesper mich nicht in meinem Protest unterstützt. Für ihn gab es auch dort viel zu tun, nämlich Frauen. Er als obercooler Macho mit seinem verwegenem blonden Haar und den hellblauen Augen.

Während ich wieder aus meinen Gedanken erwache, sehe ich die Häuser Bloomfields. Sie sehen wirklich edler aus, als das was wir sonst gewohnt sind. Jeder hat eine riesige Grünfläche um sich herum und ein Haus strahlt mehr als das andere. Vom Stil her sind sie jedoch alle gleich gebaut, also nichts besonderes.

Meine Mutter ist dabei ihren Kopf wie ein Hund aus dem Fenster zu strecken, um wirklich jedes Detail von Bloomfield einzuschnappen. Sie sieht dabei so glücklich aus, dass ihre Freude mich beinahe packt.

„Na hoffentlich ist unsere Hütte nicht so altbacken", murrt Jesper gegen seine Fensterscheibe. Mir entfährt ein Seufzer.

„Kinder, seid nicht so pessimistisch", ruft meine Mutter. Ich verdrehe die Augen. Der ganze Umgang mit den kleinen Kindern lässt sie manchmal selbst zu einem werden. Ihre Pädagogik-Affinität ist manchmal ziemlich nervig. Der Wagen hält vor einem wirklich schönem Haus und im ersten Moment ist die Schönheit des Hauses nicht zu fassen. Mein Vater lenkt den Wagen geradewegs auf die Einfahrt dieses Hauses.

„Wir sind da", haucht meine Mutter und öffnet augenblicklich die Tür. Sie bleibt stehen und hält inne, während wir alle sie beobachten. Ihr Brustkorb weitet sich, die ländliche Luft, nicht verunreinigt von Fabriken und anderen Gasen, strömt in ihre Lungen und sie lächelt so herzhaft, womit sie mich beinahe doch ansteckt. Das typische Zahnarztgrinsen meines Vaters scheint noch heller als ohnehin schon, als auch er die Tür öffnet und seinen Fuß auf die Steine setzt.

„Schaut euch diese Natur an!" Meine Mutter ist inzwischen dabei ohne Schuhe über den Rasen zu spazieren, der so grün strahlt als wäre er künstlich. Mein Bruder und ich sehen uns an.

„Na dann auf, Würmchen." Der rechte Mundwinkel von Jesper zuckt unwillkürlich nach oben.

Auch er ist jetzt aufgeregt. Unsere Eltern haben sich geweigert uns das Haus vorher zu zeigen, da sie den Eindruck des Hauses nicht unterschlagen wollten. Also öffnen auch wir gleichzeitig unsere Autotüren und steigen aus. Die Sonne macht sich gleich auf meinem Gesicht breit und lächelt mich mit ihren kitzelnden UV-Strahlen an. Es scheint so, als wolle sie Willkommen sagen. Ich richte meinen Blick auf das schöne Haus. Es besteht aus hellen verschiedenfarbigen Backsteinen. Die Türen und Fenster sind aus sandfarbenem Holz mit weißer Umrandung. Den Eingang bildet eine freundliche Terrasse mit einer prunkvollen Eingangstür, die nur zum Eintreten einlädt.

„Es ist wirklich schön", entgegne ich völlig begeistert und entlocke meinen Eltern damit ein liebevolles Lächeln. Trotz der Freude, die mich gepackt hat, bin ich mir über die Abgeschlagenheit des Hauses bewusst. Es muss ein gutes Stück vom Zentrum entfernt sein. Wahrscheinlich werde ich dann zum ersten Mal in meinem Leben mein Fahrrad nutzen müssen. Aber ich lasse mich überraschen.

„Lasst uns reingehen!", ruft mein Vater uns zu und steckt den Schlüssel problemlos in das Schloss. Langsam öffnet er die Tür und tritt ein. Meine Mutter läuft ihm barfuß hinter her und summt dabei ein Lied. Während auch Jesper den Weg ins Haus nimmt, drehe ich mich noch ein Mal um. Neben uns steht ein ähnliches Haus wie das unsere. Ich lasse den Blick über die Fenster und Türen gleiten und frage mich, ob dort wohl jemand wohnt. Wie gerufen entdecke ich in einem der oberen Fenster eine Gestalt. Und diese Gestalt sieht mich direkt an.

Etwas VerträumtWhere stories live. Discover now