Kapitel 1

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„Guten Abend meine Damen und Herren. Willkommen an Board der IB216 nach Norwegen. Wir versprechen eine angenehme Reise und wenn sie ein langes und erfülltes Leben wünschen, sollten sie bei den Sicherheitsvorkehrungen besser gut zuhören."

Die Stewardess läuft durch den Gang und wirft vereinzelten Menschen vielsagende Blicke zu. Ich rolle mit den Augen und versuche so weit wie möglichen von der strickenden Oma neben mir abzurücken.

„Halt das mal bitte." Die Oma - sie sagt sie hieße Jane - reicht mir ein lila Wollgarn, während sie auf der Suche nach ihren andern, passenderen Stricknadeln ist. Sie beugt sich vor und kramt in ihrer flamingorosanen Handtasche. Ich lege mir das Garn auf den Schoß und krame selbst in meiner Handtasche, um mein Buch zu Tage zu fördern. Als ich es herauszerre und gerade öffnen will, langt die Oma über meine Armstütze und grabscht nach ihrer Wolle. „Danke, kleines." Und damit war sie bei mir unten durch. Wenn ich eins bin, dann sehr empfindlich was meine Größe angeht. Die Oma, pardon Jane, schenkt mir ein zahnloses Lächeln. Da hatte dann wohl jemand seine Dritten vergessen. Sie beginnt zu stricken und singt dabei aus unerfindlichen Gründe auf russisch.

Ich schlage mein Buch auf und beginne zu lesen. Das Lesezeichen klemme ich mir hinter mein Ohr, so wie ich das meistens tue. Die Stewardess beendet dabei ihre Erklärung zu den Sicherheitsvorkehrungen. Ups, da habe ich jetzt wohl mein Leben riskiert, weil ich nicht zugehört hatte. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, nach meiner Aktion in der letzten Woche und dem Grund warum ich mein geliebtes London für Norwegen aufgebe, würde ich mir selbst gerne ein Loch bis zum Mittelpunkt der Erde schaufeln und darin verschwinden. Selbst so ein Loch würde mir dabei nicht einmal genügen können.

„Ladys, was darf es zu trinken sein?", fragt eine andere Stewardess, die mit einem kleinen Wagen den Gang entlanggefahren kommt. Hier kommt der Servierwagen!

„Haben Sie Champagner?", fragt die Oma.

„Sicher. Wie viel möchten Sie denn? Ein Glas? Wir haben auch kleinere."

Die Oma schnalzt ungeduldig mit der Zunge. „Zwei Flaschen sollten vorerst reichen."

Mein Mund steht sicher offen. Der der Flugbegleiterin auch. Holla die Waldfee, zwei Flaschen.

„Sind Sie sicher? Sie können auch später noch eine zweite kaufen", bemüht sich die Dame mit dem Wagen.

„Ich weiß schon was für mich gut ist. Vielen Dank für Ihre Fürsorge", sagt Jane sarkastisch.

Dafür bewundere ich sie ein bisschen. Hätte sie keine Anspielung zu meiner Größe gemacht, würde ich sie vielleicht sogar als charismatisch bezeichnen.

Die Stewardess wirkt unschlüssig. Sie holt zwei Flaschen aus dem Wagen und reicht sie nach einigem Zögern weiter an Jane. Dann gibt sie ihr noch eines dieser Plastikgläser, die man immer in Flugzeugen bekommt.

„Was hätten Sie denn gerne?", fragt sie mich.

„Einen Tomatensaft." Die Frau bringt mir ein schon fast winziges Glas. Wer war ich? Ein Zwerg? Empört betrachte ich es, während sie schon mit ihrem Wagen weiter rollt.

„Keine Sorge", sagt die Oma, „du kannst die zweite Flasche haben. Siehst so aus, als könntest du Alkohol vertragen." Sie schiebt mir die eiskalte Flasche zu und zwinkert. "Wobei du eher so wirkst, als benötigst du was Hochprozentiges."

Ich nehme die Flasche und ehe ich weiß was ich hier eigentlich gerade tue, öffne ich sie bereits. „Prost!" Jane stößt mit viel Schwung ihre Flasche an die meine. Ein wenig Alkohol tropft auf meine Jeans. „Auf den Alkohol, auf das Leben und vor allem auf das Zerstören unserer Lebern!"

Ich weiß jetzt, warum ich Flugzeugreisen so sehr liebe.



LETTER BLINDNESS // Daniel André Tande FanfictionWhere stories live. Discover now