4 - Wir bauen an der Zukunft

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Während meiner beinahe drei Monate in Sydney bekam ich das Opernhaus nicht ein einziges Mal zu Gesicht. Irgendwann wurde dieser letzte, zerschmetterte Traum zum Symbol dafür, dass ich meine Kindheit und Jugend nun endgültig zurücklassen musste. Wenn ich überleben wollte, war es an der Zeit, erwachsen zu werden.
Unser Leben hier war in den meisten Aspekten besser als vor der Umsiedlung. Es gab mehr zu essen, und die meisten von uns fanden Gelegenheit, wieder etwas Gewicht anzusetzen und ihre Kraft und Gesundheit aufzubauen. Wir mussten nach wie vor Untersuchungen über uns ergehen lassen. Aber diesmal konzentrierten sie sich nicht auf die Immunität gegenüber der Seuche. Statt dessen absolvierten wir verschiedene Tests. Manche erinnerten mich beinahe an Prüfungen in der Schule, andere machten mir sogar ein wenig Spaß und forderten mich dazu heraus, mein Bestes zu geben.
Die Maskierten testeten alles, von unserem Sehvermögen bis zur Spanne unserer Aufmerksamkeit, von der Fähigkeit, unter Druck zu arbeiten bis zu derjenigen, komplexe mathematische Probleme zu lösen. Aufgrund der Resultate wurden wir in verschiedene Leistungsgruppen eingeteilt. Schließlich wurde eine Gruppe nach der anderen weggebracht und kehrte nicht mehr zurück.
Endlich kam auch ich an die Reihe.

Mit ungefähr fünfzig anderen Jugendlichen wurde ich mitten in der Nacht zu einem Bus geführt. Er setzte sich in Fahrt, sobald wir alle Platz genommen hatten. Am nächsten Tag durchquerten wir die Blue Mountains, die Blauen Berge, eine wunderschöne, bewaldete Gegend. Jemand behauptete, das sei einmal ein berühmter Nationalpark gewesen.
Danach ging es immer weiter westwärts, hinaus in die Wüste. Wir machten nur kurze Pausen und schliefen im Bus, während sich zwei Fahrer abwechselten. Beides waren Maskierte, daneben gab es noch zwei bewaffnete Wachen. Aber niemand machte Ärger, und wir erhielten genug Wasser und regelmäßige Mahlzeiten.
Auf der endlosen Fahrt freundete ich mich mit dem Mädchen an, das neben mir saß. Ihr Name war Sandy, sie war wenige Monate älter als ich und stammte aus Indien. Wir verbrachten zahllose Stunden damit, uns gegenseitig Geschichten zu erzählen. Keine von uns erwähnte jemals ihre Familie oder das Leben vor der Seuche. Zu viele schmerzliche Erinnerungen verknüpften sich damit. Sandy hatte eine wundervolle Phantasie und viel gelesen. Gemeinsam malten wir uns eine Zukunft aus, in der es weder Maskierte noch Immune gab, sondern nur glückliche Menschen.

Unsere Reise endete in einer Stadt namens Broken Hill. Das bedeutet zerbrochener Hügel. Ich fand den Namen treffend, und hoffte heimlich, wir wären damit endlich am Ende aller zerbrochenen Hoffnungen und Träume angelangt.
Nach dem Frühling von Sydney erschien mir das Klima hier mörderisch. Ich fragte mich, warum jemand in einer so verlassenen, heißen und trockenen Gegend überhaupt eine Stadt baute. Später fanden wir heraus, dass dies eine alte Minenstadt war. Der Hügel, nach dem sie benannt worden war, hatte aus kostbarem Erz bestanden. Natürlich war dieser Hügel längst abgebaut. Geblieben waren nur riesige Schlackenhalden. Sie enthielten nach wie vor Spuren von kostbaren Metallen, die sich verwerten ließen, wie wir bald erfahren sollten.
Die Wahl unseres Reiseziels, so seltsam sie auf den ersten Blick wirkte, erwies sich rasch als wohl durchdacht: Wir wurden durch die Stadt hindurch direkt zu einem großen Gebäudekomplex gebracht. Dort stellte sich heraus, dass wir nun einem gigantischen Projekt zugeteilt waren, das schon viele Jahre vor der Seuche ins Leben gerufen worden war.

Nicht weit von der Stadt Broken Hill, in einem Gebiet, das auf mich wie eine Wüste wirkte, aber von den Einheimischen Busch genannt wurde, lag das ehemalige australische Raumfahrtzentrum. Es nahm eine Fläche ein, die mindestens jener meiner Heimatstadt entsprach, oder war vielleicht sogar größer. Rings um die gut erhaltenen Gebäude herrschte ein emsiges Treiben. Die meisten Menschen, die wir vom Bus aus erkennen konnten, waren Maskierte. An den Anblick ihrer Schutzanzüge hatten wir uns längst gewöhnt. Ungewohnt für uns war aber die Anwesenheit von zahlreichen Immunen, die sich völlig frei zwischen ihnen bewegten. Sie schienen Seite an Seite mit den Maskierten zu leben und sahen gesund und gut genährt aus. Erst im Kontrast zu ihnen wurde mir klar, wie ausgemergelt und verwahrlost wir wirken mussten.
Wirklich aus dem Gleichgewicht brachte mich die Tatsache, dass alle hier aufrichtig erfreut über unser Ankunft wirkten.

Die folgenden Monate bestanden aus harter Arbeit und unablässigem Lernen. Das machte mir nichts aus: Endlich sah ich wieder einen Zweck in meinem Dasein und durfte aktiv an der Zukunft mitgestalten. Es zeigte sich bald, dass wir sehr sorgfältig ausgewählt worden waren. Unser Fähigkeiten und Begabungen waren bekannt und wir wurden dementsprechend eingesetzt.
Im Zentrum liefen verschiedene Projekte parallel zueinander ab. Zum einen wurde ein Raumhafen gebaut, eine Startanlage für Raketen, die in einer anderen Abteilung vorfabrizierte Einzelteile eines Raumschiffs in eine Erdumlaufbahn bringen würden. Dort, im Orbit, sollte das Raumschiff zusammengebaut und für seine Reise in die Tiefen des Weltraums ausgerüstet werden.
Eine andere Aufgabe war es, die Teile für das Schiff vorzufertigen und zu Transporteinheiten zusammenzufügen. Die meisten der umfangreichen Schweißarbeiten sollten im Orbit stattfinden. Aber die ganze Feinarbeit an den einzelnen Komponenten wurde auf der Erde vorgenommen, in einem Trakt mit riesigen Produktionshallen.

Parallel zu diesen Konstruktionsarbeiten wurden Berechnungen gemacht und Programmierungen erstellt. Sandy und ich erhielten bereits am ersten Tag nach unserer Ankunft die Zuteilung zu dieser Abteilung. Ich hätte mir nichts Besseres wünschen können. Die Arbeit war anspruchsvoll und faszinierend. Ich lernte eine Menge neuer Dinge und genoss täglich die neuen Herausforderungen. Endlich hatte mein Leben wieder einen Sinn und eine Richtung.
In unserem Teil des Zentrums gab es natürlich ein Gebäude, das allein den Maskierten vorbehalten war und das wir nicht betreten durften, um die Infektionsgefahr möglichst gering zu halten. Wir hatten aber unsere eigene, gut ausgestattete Unterkunft. Es gab sogar eine Sportanlage für uns allein.
Die Arbeitszeit verbrachten wir Seite an Seite mit den Maskierten. An manchen Tagen, wenn ich völlig vertieft in meine Aufgabe war, konnte ich vergessen dass der Junge, der direkt neben mir seinen Arbeitsplatz hatte, einen schweren Schutzanzug trug. Er hieß Brent und war unheimlich neidisch auf uns. Am liebsten hätte er den unförmigen Anzug ausgezogen und das verhasste Ding verbrannt. Zum ersten Mal wurde mir klar, dass Immunität etwas Kostbares war, für das ich eigentlich dankbar sein sollte.

Hüterin der schlafenden Seelen | Wattys 2017 ShortlistTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang