11 - Im Orbit

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Wir fanden nie heraus, was Gianna zugestoßen war. Vielleicht starb sie eines natürlichen Todes. Vielleicht war es ihr nicht möglich, mit dem Wissen um die Schuld zu leben, die wir nun auf uns laden würden, hier am Ziel unserer Reise. Das war Tinas Lieblingsversion, und möglicherweise lag sie damit sogar richtig.
Mir war aber klar, dass Gianna unsere Mission immer wieder hätte scheitern lassen können, wenn sie es gewollt hätte. Sie hätte uns buchstäblich ins Leere schicken können. Dass sie es nicht tat, spricht für ihre Integrität. Trotzdem konnte ich einen möglichen Gewissenskonflikt nachvollziehen.
Wie auch immer, Tina fand sie in ihrer Kabine, kurz nachdem Lynn über Lautsprecher unsere Ankunft bei Glieses Planeten angekündigt hatte. Giannas Körper war bereits kalt, diesmal gab es keine Seele mehr zu retten.
Wir benötigten auch nicht dringend Ersatz für die Astrophysikerin, jetzt, wo wir uns im Orbit unseres Zielplaneten befanden. Deshalb verzichtete Steve darauf, Giannas Nachfolger aufwecken zu lassen.

Wir verbrachten beinahe zwei Erdmonate im Orbit und bereiteten uns auf den Endanflug vor. Dany und ich rechneten damit, dass wir nun jeden Moment damit beginnen würden, die Schläfer aufzuwecken. Aber der Befehl dazu kam nicht. Ich erkundigte mich bei Tina, rechnete damit, dass sie über bessere Informationen verfügte. Aber sie schien genauso verwirrt zu sein wie wir.
Anstelle eines Nachfolges für Gianna ließ Steve einen Spezialisten für die Gliese-Aliens aufwecken. Sein Name war Faro, und er kannte die Giotto-3-Aufzeichnungen in- und auswendig.
Ich bezweifelte, dass ihn das zu einem Experten dafür machte, was uns auf dem Planeten erwarten würde. Aber niemand interessierte sich für meine Meinung.

Faro beschäftigte uns alle damit, den Planeten zu überwachen. Dany, Tina und ich wurden von ihm in Beschlag genommen und für die Kontrolle der Sensoren eingeteilt. Sie dienten dazu, die Aliens während ihrer täglichen Aktivitäten zu beobachten. Am Anfang widerwillig, aber dann mit zunehmender Faszination widmete ich mich dieser neuen Aufgabe.
Die Giotto-Wissenschaftler sollten recht behalten. Die Aliens zeigten tatsächlich soziales Verhalten. Sie lebten in Streusiedlungen und ihre Aktivitätsmuster erinnerten an jene in mittelalterlichen ländlichen Dörfer zu Hause auf der Erde. Ich war dafür natürlich nicht wirklich eine Expertin, aber zumindest konnte ich auf all das Wissen zurückgreifen, das ich mir in den langen Stunden zwischen den Sprüngen angelesen hatte.
Dany ließ sich von meiner Begeisterung anstecken. Schon bald verbrachten wir fast all unsere Freizeit in Faros Beobachtungsraum.

Steve wurde sichtlich ungeduldig mit dem Fortschritt unserer Studien. Er beschuldigte Faro, den Prozess absichtlich zu verlangsamen und überflüssige Abklärungen vorzunehmen. Faro hingegen bestand darauf, einen kompletten Satz an Basisdaten zu sammeln, bevor er sich auf einen Landeplatz festlegte. Lynn unterstützte ihn, während Pierre sich zurückhielt.
Schließlich einigten sie sich darauf, dass wir eine weitere Woche lang beobachten durften. Während dieser Zeit entschied Steve über die Strategie. Wir würden in der Nähe eines der kleineren Dörfer landen, das etwas abseits der dicht besiedelten Gebiete lag. Dort würden wir mit der Übernahme der Körper von Einheimischen beginnen. Das Ziel war das Errichten einer menschlichen Operationsbasis, um für all die gespeicherten Seelen nach und nach neue Körper zu finden.

Ich hatte Mitleid mit den Aliens. Sie wirkten auf mich wie eine friedliche Art und lebten ruhige, vom Zyklus des Planeten bestimmte Leben in einem ländlichen Umfeld. Bis jetzt gab es keinen einzigen Hinweis auf Krieg oder irgendeine Form von Industrie.
Wir würden eine riesige Veränderung auf ihre ahnungslose Welt bringen. Und sie besaßen keine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Ich sorgte mich zudem um Steves persönliche Ambitionen. Würde er bereit sein, von seiner Position als Leiter des Unternehmens zurückzutreten , sobald wir mit dem Seelentransfer begannen?
Unsers Speicherbank enthielt eine Menge Seelen von wichtigen Leuten, von politischen Führern, ehemaligen Regierungsmitgliedern und reichen Geschäftsleuten, deren großzügige Spenden den Bau des Schiffes überhaupt erst möglich gemacht hatten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie Steve die Führung überlassen würden.

Dann war unsere Woche um. Wir hatten den größten Teil davon in einem stationären Orbit über dem Dorf verbracht, das unser Ziel sein sollte. Unser Datensammlung umfasste alles, was sich aus dieser Distanz überhaupt erfassen ließ, von der Anzahl der Einwohner bis zu der Zeit, an der sie sich zur Ruhe begaben, und der Menge an Herdstellen und anderen Hitzequellen.
Wir wussten nun, wo wir landen wollten, und es wurde Zeit, das Begleitteam zu wecken. Es war kleiner, als ich erwartet hatte. Nur drei erfahrene Soldaten sollten die Sicherheit dieser ersten Erkundungsmission gewährleisten.

Wir verstauten zusätzlich zwanzig Schläferkapseln in der Landefähre. Dany und ich sollten sie begleiten, um auf der Planetenoberfläche den Aufwachvorgang einzuleiten. Lynn erhielt den Auftrag, diesen ersten Landeanflug durchzuführen und uns auf dem Planeten abzusetzen.
Steve und Tina blieben an Bord. Er machte sie verantwortlich für die Wartung der Speicherbank und die Betreuung der Schläfer. Das erschien mir eine gewaltige Aufgabe für eine einzelne Person. Aber Tina hatte nichts dagegen einzuwenden.

Hüterin der schlafenden Seelen | Wattys 2017 ShortlistWhere stories live. Discover now