6 - Unheimliche Technologie

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Die Transfertechnologie, der Schlüssel zu dem gewagten Plan, bestand im Geheimen bereits seit Jahren. Der Grund für ihre Entwicklung war die nach wie vor erfolglose Suche nach einem zuverlässigen Krebsheilmittel gewesen.
Ein brillanter Kopf schlug vor, das ganze Wesen, alles was einen Menschen ausmacht, eines tödlich erkrankten Patienten in einen gesunden Körper zu transferieren. Seiner Meinung nach war das vielversprechender als der Versuch, einen hoffnungslos zerstörten Körper mit allen Mitteln am Leben zu erhalten.
Die Entwicklung einer Methode zu diesen Ziel hatte zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Seuche bereits zwei Jahrzehnte angedauert. Zunächst arbeiteten die Forscher wie üblich mit Tieren. Nach vielen Jahren erzielten sie einen ersten Erfolg, den Transfer des Wesens eines Hundes auf eine Kuh. Natürlich blieb dieser Durchbruch nicht lange geheim. In den Medien wurde das Ereignis hochgejubelt.
Ich fragte mich damals, als kleines Mädchen, wie es der armen Kuh wohl erging, die plötzlich das Bedürfnis hatte, Fleisch zu fressen und den Briefträger zu beißen.
Ethische Gründe verunmöglichten es, im großen Rahmen Gelder für Experimente an Menschen zu gewinnen. Die Sache wurde rasch problematisch. Niemand war bereit, die Verantwortung für den Transfer eines Menschen in den Körper eines anderen zu übernehmen. Vor allem, weil es keine Möglichkeit gab, den ursprünglichen Besitzer des Körpers zu retten. Es entbrannten heiße Diskussionen um die Begriffe 'Wesen' und 'Seele'. Spätestens zu diesem Zeitpunkt mischten sich neben den großen Religionen auch verschiedene religiöse Gruppierungen ein. Sie alle hatten eine Ansicht gemeinsam: egal ob der Prozess 'Wesenstransfer' oder 'Seelenübertragung' genannt wurde, er widersprach jeder menschlichen Ethik.
Schließlich wurde die Forschung eingestellt, die bisherigen Resultate mit der Bezeichnung 'interessant' auf Eis gelegt.

Seuche S2 veränderte alles. Plötzlich versprach die einstmals verpönte Technologie Hoffnung auf Überleben. Das Schiff, unser Raumschiff, würde die übergebliebenen menschlichen Seelen – dieser Ausdruck hatte sich durchgesetzt – zu einem erdähnlichen Planeten transportieren. Dort sollten sie in Körper einer außerirdischen Rasse eingesetzt werden.
Natürlich wurden endlos Fragen aufgeworfen und berechtigte Zweifel angemeldet. Wie schnell ließ sich das Schiff fertigstellen? Wie sollten die Seelen unterwegs aufbewahrt werden? Gab es einen geeigneten Planeten, der als Ersatz für die Erde dienen konnte? Würde der Transfer der Seelen auf Außerirdische funktionieren? Das ist nur eine kleine Auswahl der wichtigsten Kontroversen und Themenkomplexe.
Wir verloren keine Zeit. Die Belegschaft des Programmierungszentrums teilte sich in verschiedene Gruppen auf, die sich unterschiedlicher Problemkreise annehmen sollten. Sandy wurde der Abteilung für den Seelentransfer zugewiesen. Sie half mir dabei, die primäre Problematik des Prozesses zu verstehen.

Selbstverständlich fragten wir uns rasch, warum die Maskierten die Seelentransfertechnologie nicht schon während der ersten Seuchenwelle eingesetzt hatten, um immune Körper zu übernehmen. Die Macht dazu hätten sie besessen.
Sandy fand heraus, dass dies tatsächlich versucht wurde, aber nicht funktionierte. Eine menschliche Seele kann nicht mit einer anderen ersetzt werden. Der Abwehrmechanismus des Körpers wird 'Mentale Allergische Reaktion' genannt, oder MAR.
Ich verstand die Hintergründe nicht genau, aber MAR führte zu einer interessanten Situation. Die Maskierten waren in der Lage, Seelen in den Körper eines Tiers zu transferieren, also zum Beispiel eines Hundes oder einer Katze. Dieser Erfolg war allerdings nur mäßig. Die transferierte Seele nahm danach den unbenutzten Raum im Gehirn des Wirts ein. Was mit der Seele des Wirts geschah, blieb unklar. Zumindest schien nichts vom ursprünglichen Besitzer des Körpers zurückzubleiben.
Aber wer wollte schon mit der Leistung eines Gehirns in der Größe desjenigen einer Hauskatze auskommen? Die einzigen passablen Ersatzkörper lieferten die großen Primaten, vor allem Schimpansen und Gorillas. Aber auch diese kamen bei den Maskierten nie wirklich in Mode.
Zudem waren Affen aller Art nicht immun gegen die Seuche. Das Virus mutierte weiter, nachdem es zunächst die meisten Menschen von der Erdoberfläche getilgt hatte. Schon bald waren auch Haustiere betroffen und spätestens mit der Seuche S2 griff die Krankheit auch auf Wildtiere über.
Die letzten Hoffnungen auf eine neue, seuchenfreie Erde schwanden rasch dahin.

Ich wurde Teil der Gruppe, der es oblag, die Speicherbank für die Seelen zu entwickeln. Im Grunde genommen war es ein riesiges Archiv, in das die Essenz der Wesen Tausender von Menschen eingelagert werden sollte. Wir benötigten drei Jahre, um die Aufgabe abzuschließen. In dieser Zeit bauten andere Teams das Schiff zusammen und testeten es auf die Tauglichkeit für seine eine große Mission.

Als S3 zuschlug, wurden die verhassten Schutzanzüge auf einen Schlag für alle noch lebenden Menschen obligatorisch. Von nun an gab es keinen sichtbaren Unterschied mehr zwischen Maskierten und Immunen. Erst jetzt begriff ich, wie mühsam und umständlich das Leben im Anzug war.
Zum Glück hatten wir inzwischen den Punkt erreicht, an dem die Speicherbank erste Seelen aufnehmen konnte. Vorrang erhielten natürlich jene Opfer der dritten Seuche, die bereits dem Sterben nahe waren. Ich erinnere mich noch gut an die Mischung von Angst und Hoffnung in den Gesichtern der ersten Menschen, an denen die Prozedur getestet wurde.
Die wichtigste Neuigkeit war allerdings, dass sich die Astronomen endlich auf das Ziel unserer Reise geeinigt hatten.

Hüterin der schlafenden Seelen | Wattys 2017 ShortlistWhere stories live. Discover now