4

7.8K 588 62
                                    

Der Regen hatte Raphael die Hitze des Tages vom Körper gewaschen, jetzt stand er zitternd vor Kälte in Frau Niederbachs Vorgarten, Lissas Tasche eng an sich gepresst. Er konnte sie nicht einfach draußen im Regen liegen lassen. Ihr Handy würde einen Wasserschaden bekommen, das Polaroidbild kaputtgehen und ihre Sonnencreme könnte auslaufen.

Das versuchte sich Raphael einzureden, obwohl es letztendlich seine Neugierde war, die ihn dazu brachte, die paillettenbesetzte Tasche mit ins Haus zu nehmen.

Im Flur angekommen tastete er blind herum, bis er auf der Hutablage fand, was er gesucht hatte. Sein schlechtes Gewissen hatte größere Fälle zu diskutieren, deshalb meldete es sich nicht, als Raphael sich mit dem nach alte Frau riechenden Schal die Haare abtrocknete.

Das Nachthemd wrang er mehr oder minder erfolgreich über der Fußmatte aus und erst, als er soweit getrocknet war, dass er keine Spuren zurücklassen würde, begab Raphael sich auf den Weg nach oben. Im Dachgeschoss angekommen spielte er kurz mit dem Gedanken, sich ins Bett fallen zu lassen, aber in Gedanken an Herrn Niederbachs Tod ließ Raphael sich auf die Dielen sinken.

Das dicke Gewebe der Beuteltasche hatte sich mit Wasser und Matsch vollgesogen, trotzdem war das Handtuch bis auf ein paar kleine Flecken trocken geblieben. Und das Handy in seiner Polaroidzehneurohülle hatte, soweit Raphael das beurteilen konnte, auch noch nicht gelitten.

Als Raphael aus den Homebutton drückte, pulverisierte das Displaylicht seine Augen. Er blinzelte und schraubte die Helligkeit herunter. Sehr gut, es funktionierte noch. Wieder blickten ihm Lissas Musikgruppe und die Zahlenreihe entgegen. Die Zahlenreihe war nicht besonders einfallsreich, dafür aber idiotensicher. Mit einem siegessicheren Lächeln tippe Raphael die Zahlen ab.

7438

Touch ID oder Code eingeben

Ungläubig stierte er auf den Bildschirm. Einen kurzen Augenblick lang empfand er Gewissensbisse, im nächsten hatten Neugierde und Ehrgeiz das Zepter wieder in der Hand. Immerhin musste er überprüfen, ob das Handy einen Wasserschaden oder andere Schäden hatte. Dann würde er es noch schnell in Reis einlegen oder auf die Heizung verfrachten. Es war nur zu Lissas besten. Raphael kniff die Augen zusammen, dann versuchte er es ein zweites Mal.

7438

Touch ID oder Code eingeben

Wieder nichts. Angestachelt kniff Raphael die Augen zusammen, dann kam ihm der Gedankenblitz. Natürlich, warum war er nicht schon früher darauf gekommen. Wieder las er die Zahlenreihe ab, dieses Mal von hinten.

8347

Der Sperrbildschirm glitt zur Seite und machte dem Hintergrundbild Platz. Ein Sonnenuntergang über dem Meer. Nord- oder Ostsee, das Meer war grau, nicht blau. Und wahrscheinlich selber fotografiert. Die Horizontlinie war schief.

Raphael zog die Benachrichtigungsleiste herunter, ohne weiter darüber nachzudenken. Es passierte einfach automatisch, ihm wurde nicht bewusst, dass er mit diesem einzigen Wisch seinem Leben einen Schubs in eine andere Richtung gab.

Fünfzehn Anrufe in Abwesenheit, 86 neue Nachrichten.

Raphael starrte eine Weile wie gebannt auf den furchtbar schlecht fotografierten Sonnenuntergang. Er konnte Sonnenuntergänge nicht leiden, sie waren zu kitschig, zu surreal, zu schön und zu perfekt für diese Welt. Und während er durch den Bildschirm mit all seinen leuchtenden Pixeln hindurchschaute, brauchte er einige Sekunden, bis er die Bewegung der eintreffenden Nachricht am oberen Bildschirmrand überhaupt bemerkte.

So wie eine Venusfliegenfalle, die zuschnappt sobald etwas ihre Tastfühler berührt, egal ob es eine Fliege oder ein menschlicher Finger ist, genauso tippte Raphael auf das Display. Nicht, weil er die Nachricht lesen wollte, sondern einfach nur, weil sie gekommen war und ihn durch ihre Bewegung aus seiner Starrheit befreite.

Uranus ist auch nur ein PlanetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt