53 - Levi

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Soweit Raphael sich erinnern konnte, war sein Physikunterricht in der Mittelstufe genau eine einzige Doppelstunde lang interessant gewesen. Die letzten Stunden vor den Weihnachtsferien und seine Lehrerin hatte Schokoküsse mitgebracht. Und während sie alle ihre Schokoküsse verdrückt hatten, obwohl das in den Fachräumen eigentlich streng verboten war, hatte Frau Kraute ihren unter eine Glasglocke gestellt und ein Vakuum erzeugt.

Die Schokoladenhülle war aufgeplatzt und der weiße Schaum aus ihr herausgequollen. Vakuum, ein weitgehend luftleerer Raum. Viel mehr war dann auch nicht hängen geblieben.

Aber als Raphael Ricas Handy sinken ließ, das verdunkelte Display aufleuchtete und die Anrufinformationen der Werbung der Internetseite Platz machten, kam er sich plötzlich so vor wie der Schokokuss in seiner Glasglocke.

Alles voller Leere und trotzdem bis zum Zerreißen gespannt. Er machte ein paar Schritte zurück in Richtung des Spielfeldes, blieb dann aber stehen. Er würde sich nicht einfach neben Rica setzten und Levis Hinterkopf anstarren können. Er würde einfach hier bleiben, hinter dem Vereinshaus und gegenüber von der Pferdekoppel. Hier bleiben, bis Matthi und Juna kamen. Raphael ließ sich zurück auf die Stufen sinken, wandte kurz den Kopf nach hinten um die Wände auf Spinnen und Kellerassel zu überprüfen. Als das nicht der Fall war, lehnte er sich gegen die Tür des Hintereingangs und schloss die Augen. Er saß im Schatten und alles, was er sah, war ein pulsierendes dunkles Rot.

Wenn man die Augen schloss, dann verschwammen die Geräusche um einen herum. Einerseits zwang man sich so, sie wahrzunehmen, sich auf sie zu verlassen. Sie wurden lauter, wenn man sie wahrnahm. Aber andererseits wurden sie diffuser, ungenauer. Weil man nicht mehr sehen konnte, woher sie kamen. Raphael hörte Stimmen aus dem Vereinshaus, Stimmen vom Feld. Pfiffe und Rufe. Das Rauschen von Autos, gelegentliches Schnaufen der Pferde. Und alles vermischte sich zu einem einzigen Summen.

Bis sich aus dem Summen auf einmal das dumpfe Pochen von Schritten herauslöste. Raphael konnte spüren, wie die Tür in seinem Hinterkopf vibrierte. Und als die Tür jäh aufgerissen wurde, er den Kopf zurückzog und Levi da stehen sah, war es, als würde sein Vakuum plötzlich wieder mit Luft gefüllt werden.

Luft strömte unter die Glasglocke, Ton und Bild fügten sich wieder zu einer Einheit zusammen.

Mit einer Hand hielt Levi die Türklinge fest, mit der anderen stützte er sich am Türrahmen ab. Raphael erhob sich und ließ Ricas Handy in seine Hosentasche gleiten. Levi schien unter seiner bereits sonnengebräunten Haut blass zu werden. Raphael beobachtete ihn abwägend. Aber Levi blieb einfach nur stehen. Er schluckte und der Kehlkopf in seinem Hals wanderte auf und ab.

„Wen?", fragte Levi gepresst. Seine Hand schloss sich um die Türklinke, bis die Knöchel weiß wurden. „Wen hast du angerufen?" „Nicht die Polizei", erwiderte Raphael und sah zu Boden, als Levi erleichtert aufatmete. Er löste sich aus seiner Versteinerung im Türrahmen und richtete sich auf. „Danke, wirklich." Levi nickte ihm zu und bedachte ihn mit einem anerkennenden Blick.

„Danke?", wiederholte Raphael ungläubig und richtete sich kerzengerade auf. „Und jetzt?", fuhr er ihn an. „Alles geklärt, gehen wir wieder zurück zum Spiel, wer führt denn eigentlich, sag mal hast du sie noch allehHAST DU SIE NOCH ALLE?" Raphaels Stimme war immer lauter geworden, er fasste sich an die Stirn und ihm fiel es schwer, Levi in seiner Selbstgefälligkeit überhaupt ins Gesicht zu blicken. „Lissa ist tot. Weißt du das überhaupt?"

Levi wich zurück und hob abwehrend die Hände. „So war das nicht gemeint, Mann. Wirklich nicht." Raphael schnaubte. „Ach ja, wie dann?" Levi presste die Lippen zu einem dünnen weißen Strich zusammen. „Ich saß in diesem Auto, okay?" Er fuhr sich durch die Haare, stieß sich von der Wand ab und blieb eine Armlänge von Raphael entfernt stehen. „Ich habe sie gar nicht gesehen. Nur ihre Beine, die irgendwie im Fahrrad festhingen." Er schluckte und starrte mit geweiteten Augen auf den Boden.

Uranus ist auch nur ein PlanetWhere stories live. Discover now