19 - Montag, 1. Mai

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Ich bin nicht Marly, sondern ihre Freundin - sie hat mich gebeten, falls irgendetwas mit ihr sein sollte, dieses Buch weiterzuschreiben. Und jetzt ist etwas mit ihr passiert - Marly hat eine Lungenentzündung. Ich sitze neben ihr - sie schläft; ich bemühe mich also auch um einen schönen "Eintrag" - vielleicht bekommt ihr morgen schon wieder einen von ihr.

Gestern Nachmittag hatte ich mich mit ihr verabredet, doch erst kam sie nicht und als ich ihr dann entgegen gefahren bin, habe ich sie auf einer Bank ich Wald sitzend gefunden - sie war total schlapp, sie saß, nicht richtig bei Bewusstsein, dort. Ich habe den Krankenwagen gerufen und jetzt liegt sie dort auf der Intensiv(-station). Ich habe so Angst um sie - sie hat ja hier auch schon ein Kapitel veröffentlicht, in dem sie über den Tod geschrieben hat, beziehungsweise wie man mit Leukämie im Endstadium stirbt. Jetzt ist es passiert, sie schwebt wegen einer einfachen Lungenentzündung in Lebensgefahr. Die Ärzte kennen mich ja schon seit Anfang ihrer Behandlung - ich war dabei, als wir die Diagnose erfahren haben. Deswegen haben sie auch keine Geheimnisse vor mir und haben mir ganz offen gesagt, dass ihre Chancen schlecht stehen. Ich bin die nächsten Tage von der Schule befreit und sitze jetzt schon seit vielen Stunden bei ihr, halte ihre Hand, wenn sie Fieberträume hat und beruhige sie, wenn sie hochschreckt. Ich erzähle ihr dann immer, dass sie es bald geschafft hat - und dann frage ich mich wieder, wie ich das meine, mit "geschafft". Meine ich, dass es ihr bald wieder besser geht, oder dass sie bald erlöst wird?

Im Moment habe ich einfach nur Angst um sie, weil niemand sagen kann, ob sie es schaffen wird. Die Antibiotika schlagen nicht an, ihr Immunsystem ist am Boden. Ich habe einfach Angst. Schiss. Ich hoffe so, sie schafft es.

Aber eigentlich weiß ich ja, dass wir sie so oder so verlieren werden. Irgendwann - nein - bald ist es soweit. Und das traurige ist, sie ist bereit. Sie akzeptiert es. Wie oft hat sie uns schon gesagt, dass wir nicht um sie weinen sollen, weil man eh nichts mehr ändern kann? Oft. Eigentlich sollten wir es nach eineinhalb Jahren akzeptiert haben - aber zumindest ich habe das noch nicht. Ich will nicht, dass sie jetzt schon geht! Wenn sie jetzt schon geht, konnte ich mich nicht mal mehr von ihr verabschieden. Ihr nie sagen, wie viel sie mir bedeutet. Nie mehr. Ich wollte eigentlich noch so viel mit ihr erleben! Wir hatten Pläne gemacht, was wir studieren wollen, wo wir unser Auslandsjahr machen wollen. Und jetzt... soll alles jetzt schon aus sein?

Vielleicht hat sie jetzt nurnoch eine Sekunde - oder zehn. Oder noch über hundert Tage.

Die letzten fünf MonateWhere stories live. Discover now