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1: Eine aufreibende Nacht

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Ich haschte nach meinem Glas, das wie immer auf dem kleinen Rundtisch neben meiner Balkontür stand. Dabei streckte ich die Beine, die ich eben noch im Schneidersitz unter mir platziert hatte, aus und lauschte dem leisen Knarzen meines Ohrensessels. Sein Fliederton passte nicht ganz in meine spärliche Wohnzimmereinrichtung, aber seit meinem Auszug aus meinem Elternhaus war er alles, was mich an Zuhause erinnerte.

Der Latte Macchiato war bereits eiskalt, als ich einen Schluck nahm, doch das Koffein half mir dabei, nicht einzuschlafen. Ein paar Stunden musste ich wohl oder übel noch für meine Klausur am Dienstag aufwenden, zumal meine Dozentin stundenlang über die Künstler in der Renaissance hätte philosophieren können. Ich hingegen liebte den Expressionismus Anfang der 20er Jahre.

Wieder blätterte ich eine Seite weiter und überflog meine Notizen, als ein klägliches Jaulen durch das offene Fenster in der Küche zu mir drang. Ich atmete nicht und blieb ganz ruhig sitzen. Das Geräusch schien verstummt. Diese Ablenkung wäre mir gerade recht gekommen. Ich nippte an dem Glas, schmeckte den vielen Zucker, den ich ins Getränk geschüttet hatte und verzog kurz das Gesicht. Entweder würde ich eines Tages an Schlaflosigkeit oder Überzuckerung sterben.

Ich musste wohl eingenickt sein, denn draußen prasselten Regentropfen gegen mein Fenster und eine dicke Wolkendecke hatte sich über die Stadt gelegt. Kleine, glitzernde Perlen rannen an der Scheibe um die Wette. Ich neigte meinen Kopf zur Seite, um aus der gläsernen Tür zu meinem Balkon mit dem Gittergeländer hinauszuschauen. Die Straße wirkte still. Nur die Laternen warfen kleine Lichtflecken auf den Asphalt. Keine Menschenseele wagte sich bei Nacht und Regen aus dem Haus. Den Ursprung des Jaulens konnte ich nicht ausmachen.

„Ist wahrscheinlich nur der Wind gewesen", sagte ich zu mir selbst und dachte im selben Moment daran, dass ich diese Selbstgespräche sein lassen wollte. Eine Angewohnheit, die ich nur schwer ablegen konnte. Aber hin und wieder hörte sich das Heulen des Windes tatsächlich wie der Schrei eines Menschen an. Ein leichter Schauer überkam mich und ich zog meinen Schal enger um mich.

Ich sank tiefer in meinen Ohrensessel und blätterte durch meine Aufzeichnungen, die, je später es wurde, immer weniger Sinn ergaben. Meine Augen brannten, denn meine Zimmerlampe spendete nicht annährend genügend Licht, um zu lesen. Ich gähnte und lief ein paar Runden in meinem Wohnzimmer umher, meine Hausschuhe schlurften über den kleinen Teppich. Da ertönte es plötzlich schon wieder. Ein Jaulen, das mir eine Gänsehaut bescherte.

Als ich die Glastür zum Balkon öffnete, stieß mir die kalte und feuchte Nachtluft entgegen. Ich erschauderte sofort und klammerte mich an das Geländer. Alles unter mir wirkte normal. Die Mülltonnen am Straßenrand standen in Reih und Glied, daneben lagen einige gelbe Säcke. Nichts deutete auf jemanden oder etwas hin, was diese Geräusche verursachen könnte. Nur um sicher zu gehen, lehnte ich mich über das Geländer und guckte um die Hausecke. Das Metall schnitt sich kalt in meinen Bauch.

Hinter der Mauer, in der Einfahrt könnte sich etwas verstecken. Von hier war es mir unmöglich, diesen Punkt einzusehen. Frierend ging ich rückwärts und ließ die Tür ins Schloss fallen. Ich würde sicherlich nicht in der tiefsten Nacht bei Regen und Wind nach draußen gehen, um einem mysteriösen Jaulen hinterher zu jagen. Das war doch unsinnig, selbst für mich.

Beinahe gleichzeitig mit diesem Gedanken ertönte nochmals ein Jammern von draußen und ich biss mir unweigerlich auf die Lippen. Wenn doch jemand verletzt in der Einfahrt lag? Ein Hausbewohner womöglich? Die alte Dame nebenan war vielleicht gestürzt. Mit diesem Gedanken könnte ich niemals ruhigen Gewissens einschlafen. Immerhin musste ich erste Hilfe leisten oder wenigstens einen Krankenwagen rufen.

Das Treppenhaus war dunkel und so ruhig wie nie zuvor. Ich nahm immer zwei Stufen auf einmal, spürte mein donnerndes Herz in der Brust schlagen. Bevor ich den ersten Schritt nach draußen setzte, zückte ich mein Handy. Ich musste auf Nummer sicher gehen, wer wusste schon, was mich da erwartete und ich konnte nur zu gut auf einen Verbrecher oder betrunkenen Schläger verzichten.

Paws on GlassWhere stories live. Discover now