Kapitel 1

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Berlin stinkt nach Pisse. Überall wohin man geht stinkt es nach Pisse. Selbst in dem kleinen Abteil des Zuges, in dem ich sitze und aus dem Fenster starre, riecht es, als hätte ein Obdachloser vor wenigen Sekunden seine Blase voll mit Schnaps und Billigbier entleert.

Angewidert rümpfe ich die Nase und ziehe den Kragen meines Hoodies über die Hälfte meines Gesichts. Doch auch der dicke Stoff filtert den Gestank nicht, also sehe ich hinaus auf die vorbei ziehenden Häuser. Die Lichter verschwimmen vor dem Himmel eines vergangenen Sommerabends. Dann rückt das Bild in den Hintergrund und in den Fokus tritt mein Gesicht, vergraben in den Pullover. Es spiegelt sich auf der zerkratzten, beschmierten Scheibe und doch erkenne ich ganz genau die weißen Linien, die sich quer über mein Gesicht ziehen. Sie sind fein, aber wulstig; laufen über meine rechte Augenbraue hinweg und durchschneiden sie. Fast elegant tänzeln sie über meine Nasenspitze, bahnen sich einen Weg über meine spröden Lippen und finden ihr Ende an meinem Kinn. Es sind drei; mehr oder weniger parallel. Ich berühre sie vorsichtig mit meinen kalten Fingerspitzen und beobachte mich aus glasigen Augen dabei.

So hässlich. So entstellt.

,,Die Fahrkarten!''

Ich zucke bei der lauten, tiefen Stimme, die aus dem Nichts ertönt, zusammen und wende den Blick von meinem Spiegelbild ab. Der Schaffner steht steht ein paar Sitzreihen entfernt und beginnt, die Fahrkarten der Passagiere zu kontrollieren.

Rasch, aber mit routiniert greife ich meine Tasche, werfe mir den Rucksack über und gehe schnellen Schrittes den Gang hinunter; in die entgegengesetzte Richtung. Meine Finger streifen über die Lehnen und mein Herzschlag ist leicht beschleunigt.

Schwarzfahren ist für mich zu einer gängigen Methode geworden, um Geld zu sparen. Mit den Jahren habe ich gelernt, wie ich mich vor den Kontrolleuren wegschleiche, verstecke oder mich rausrede. Dennoch verspüre ich jedes Mal die gleiche Nervosität wie beim ersten Mal, nur nicht so intensiv. Es ist ein Nervenkitzel, den ich mittlerweile fast genieße. Wenn ich so wie jetzt durch die Gänge husche, fühle ich mich wie der schlaue, listige Fuchs, der mit der Gans im Maul dem Jäger mit dem Schießgewehr entgangen ist.

,,Wir erreichen nun den Bahnhof Berlin-Ostbahnhof. Ausstieg in Fahrtrichtung links.'',ertönt die Durchsage und ich verlangsame meine Schritte.

Gerade, als der Zug zum Stehen kommt, erreiche ich einen Ausgang. Die Türen schieben sich geräuschlos auf und dann trete ich hinaus in den kühlen Abend.

Auf dem Bahnsteig ist es weitestgehend leer und ich beschließe, mir einen Kaffee zu kaufen und dann zur S-Bahn zu gehen. Auch dieser Gleiß ist leer und die Stille wird nur vereinzelt von einfahrenden Zügen und Stimmengemurmel unterbrochen. Es ist 23.36 Uhr an einem Montag und alle Menschen, die noch unterwegs sind, scheinen genauso ausgelaugt wie ich.

Ich lasse mich auf einer nahe liegenden Bank nieder. Neben mir sitzt eine Frau mit dicken Tränensäcken unter den stark geschminkten Augen, die ihre Handtasche gegen ihre Brust drückt. Sie riecht nach Pommesbude und trägt Peeptoes, die ihre ungepflegten Fußnägel wie auf einem Silbertablett präsentieren. Ob sie wohl bei McDonalds arbeitet? Mit diesen Schuhen?

Das laute Knurren meines Magens lässt mich zusammenfahren und ich nehme rasch einen Schluck Kaffee und wende den Blick von ihr ab. Ihr Geruch nach heißem Fett erinnert mich daran, dass ich seit mehr als 24 Stunden nicht gegessen habe.

Die einfahrende S-Bahn lenkt mich zum Glück von dem klaffenden Loch in meinem Bauch ab und ich steige in die Bahn, nach zwei Stationen jedoch wieder aus.

Da, wo ich nun bin, an der Warschauer Straße, herrscht buntes Treiben. Fast bin ich etwas überrascht, als ich mich durch Menschenmassen auf dem Gleiß quetschen muss. Überall stehen Leute herum, trinken Bier und sind in Feierlaune. Hier spricht nichts dafür, dass es ein Montagabend ist und morgen wieder die Arbeit oder Uni ruft. Hier flimmert die Luft nur so von guter Laune und dem penetranten Geruch von Gras. Während ich die gute Stimmung versuche in meinen müden Verstand zu saugen, nestele ich die Wegbeschreibung aus meiner Jackentasche und beginne, die steile Treppe am Ende des Gleißes zu erklimmen. Nach diesem Aufstieg stehe ich auf einer Brücke und auch hier drängen sich die Leute eng aneinander vorbei. Ich schnappe Worte in den verschiedensten Sprachen auf, während an den Seiten der Brücke Straßenmusiker ihre Stücke zum Besten geben.

Ja, Berlin stinkt nach Pisse. Und Gras. Aber noch nie zuvor hat eine Stadt solch eine Euphorie in mir ausgelöst. Trotz der Erschöpfung in meinen Gliedern fühle ich mich innerlich ganz kribbelig und will mich am liebsten mit den Leuten um mich herum ins Treiben stürzen. Doch eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf, sowie das klaffende Loch in Geldbeutel und Bauch treiben mich voran. Ich verspreche mir aber selbst, noch ein mal an diesen Ort zu kommen, wenn ich ein bisschen Geld verdient habe.

Die Wegbeschreibung auf dem zerknüllten Blatt Papier führt mich nun in eine Seitenstraße. Nur nach wenigen Metern scheint der Trubel von eben in unendlich weiter Ferne. Hier sind die Laternen viel gedimmter und an der langen Mauer, die sich rechts von mir erstreckt, stehen vereinzelt dunkelhäutige Männer formiert zu kleinen Grüppchen. Auf der anderen Straßenseite befinden sich zwar ein paar Kioske, aber trotzdem ist die Stille erdrückend und macht meine Lider augenblicklich wieder schwer. Dennoch prickelt meine Kopfhaut, als ich die Blicke der Typen an der Mauer in meinem Rücken spüre.

Es ist nicht ihre Hautfarbe, die mich beunruhigt, sondern, dass sie immer in der Überzahl sind. Hin und wieder machen sie mich an. Rufen mir hinterher, ich solle stehen bleiben.

,,Schöner Hintern'',höre ich einen sagen und einen anderen mit der Zunge schnalzen.

,,Wohin so schnell, schöne Frau?'',sagt einer, den ich passiere und kurz seinen lüsternen Blick auffange.

Sie dealen mit Gras. Überall riecht es danach. Obwohl keiner von ihnen mich anfasst oder sich mir in den Weg stellt, weicht meine Nervosität wie aus einem gefüllten Lufballon, als ich auf eine hell beleuchtete Kreuzung komme und meine zu Fäusten geballten Hände lockere. An der Ampel versuche ich mit kontrollierten Atemzügen mein klopfendes Herz zu beruhigen und blicke ein weiteres Mal auf meine Wegbeschreibung. Es ist nicht mehr.

Als ich mich gerade mit leichterem Herzen in Bewegung setzen will, packt mich jemand an der Schulter und dreht mich herum. Ich schnappe wieder nach Luft.

,,Hey, bleib doch mal stehen, Süße.''

Vor mir steht ein Typ, der mindestens einen Kopf größer ist als ich. Sein gammliger, warmer Atem schlägt mir ins Gesicht, so nah ist er. Seine Haut ist dunkel, seine Zähne schief und der graue Hoodie, in dem seine breiten Schultern stecken steht vor Dreck. Ich weiche sofort zurück und befreie mich aus seinem Griff. Als ich mit weichen Knien rückwärts gehe, stoße ich gegen etwas. Erst, als ich weitere Hände an mir spüre, weiß ich, dass es ein weiterer Mann sein muss. Das Blut rauscht mir in meinen Ohren.

,,Wo willst du denn so schnell hin?'',fragt der hinter mir und seine Stimme, so rau wie Schmürgelpapier, jagt mir einen Schauer über den Rücken.

Ich bin wie gelähmt und schaue zu, wie noch zwei andere auftauchen. Als läge ein Klotz Blei auf mir und würde mich in den Boden drücken, so lange bis ich immer und immer kleiner vor diesen Typen werde. Sie bauen sich wie Mauern vor mir auf. Mein Herz rast, doch ich versuche durch den Nebel meiner Panik hindurch einen klaren Kopf zu bewahren. Mit viel Mühe schaffe ich es, mein Kinn ein wenig anzuheben und meinen Rucksack näher an mich zu ziehen.

,,Ich bin nur auf der Durchreise hier und gerade auf dem Weg zu meinem Hostel.'',bringe ich mit brüchiger Stimme hervor – doch meine Schultern sind straff und ich erwidere den Blick des Hoodie-Typen ununterbrochen.

,,Ah, schön schön''

Nun kehrt Bewegung in die kleine Gruppe ein und sie lösen ihre Formation weitestgehend auf. Doch dann merke ich, dass sie mich so wieder weiter in die dunkle Straße drängen und die Panik übermannt mich schon wieder.

Ich bin wie die Gazelle im Maul des Löwen. Ich weiß, dass mein Schicksal besiegelt ist.

Julys NarbenWhere stories live. Discover now