Prolog

172 14 9
                                    

Still und verlassen lag die Straße da. Kein einziges Geräusch durchbrach die drückende Atmosphäre, die auf ihr lastete. Es war, als hielte alles Leben den Atem an. Der Mond war schon lange hinter den düsteren Wolken verschwunden.
Etwas Schreckliches würde passieren.
Etwas Grauenvolles, von dem sich später jeder wünschen würde, es wäre niemals geschehen.
Eine einzelne Straßenlaterne flackerte gespenstisch, verlosch ganz, flackerte wieder. Nebelschwaden krochen in Schlieren über den Boden und verliefen sich, lösten sich auf, als hätte es sie nie gegeben.
Die Häuser zu beiden Seiten der Straße standen wie dunkle Riesen da, ihre schwarzen Fenster wirkten wie große tote Augen.
Raum und Zeit waren außer Kraft gesetzt, alles Leben war fort.

Doch da war es plötzlich. Ein helles, fröhliches Stimmchen, das wie ein Messer die samtig dunkle Stille  durchschnitt.
Leise hallte ein verträumter Gesang von den dunklen Hauswänden wieder.
Und da war sie.
Ein kleines Mädchen hüpfte völlig selbstvergessen die Straße entlang und summte fröhlich vor sich hin. Lange goldblonde Locken wippten bei jedem Sprung auf und nieder und umspielten ein zartes, engelsgleiches Gesicht.
Ein rosèfarbenes Kleidchen umspielte ihre zarte Gestalt. Von einer blassen Hand baumelte eine weiße Tasche herunter, auf der ein roter Schriftzug zu lesen war:
Josephine.
In der anderen Hand hielt das Mädchen eine große Puppe, ebenfalls im rosèfarbenen Kleidchen und mit niedlichen Balettschuhen. Bei jedem Schritt schwangen ihre langen Arme und Beine hin und her, ihr geflochtenes, blondes Haar tantzte wild um den Porzellankopf mit dem lächelnden Gesicht.

In der Ferne grollte Donner, ganz leise und flüchtig. Trotzdem hob Josephine verwirrt den Kopf, so etwas wie Irritation blitzte in ihren Augen auf. Doch so schnell, wie es gekommen war, verschwand der seltsame Ausdruck wieder und sie verfiel wieder in ihr verträumtes Herumspringen. Bereits nach wenigen Meter wurde die Kleine jedoch schon wieder abgelenkt. Verwirrt blieb sie stehen uns starrte mit glasigen Augen auf den bunten Lutscher, der direkt vor ihr auf dem dunklen Asphalt lag. Langsam bückte sie sich und hob ihn auf. Sie drehte ihn vor ihrem Gesicht zwischen den kleinen Fingern und besah ihn sich von allen Seiten. Schließlich steckte sie ihn in ihre kleine Tasche und wollte ihren Weg gerade fortsetzen, als sie etwas in ihrem Augenwinkel wahrnahm und sich verwundert abermals umwandte. Mit großen Augen starrte Josephine auf die Spur aus Süßigkeiten, die sich über die dunkle Straße zog. In Reih' und Glied lagen alle möglichen Bonbons, Schokoriegel und Gummibärchen auf dem Boden. Sie konnte nicht widerstehen und leise und beinahe verstohlen sammelte sie Schrittchen für Schrittchen die Leckereien auf.

Ohne es zu merken kam sie immer mehr von der Straße ab, sie folgte der Spur bis zwischen zwei besonders bedrohlich aussehende Häuser am Straßenrand. Wie ein gähnender Schlund ragte ein Hauseingang vor ihr auf, das Tor stand geradezu einladend offen. Verträumt lief Josephine darauf zu. Eine Süßigkeit nach der anderen landete in ihrem Täschchen. Jeder Schritt brachte sie dem Tod ein Stück näher.
Und dann passierte es.
Ein letztes Mal bücken und die Dunkelheit des Eingangs verschlang das kleine Mädchen.
Stille.
Dann ein grauenhafter Kinderschrei.
Rotes Blut tropfte auf die Stufen, so viel Blut.
Und wie, als wolle sie die Situation verhöhnen, lag mittendrin, blutbeschmiert und verdreckt, die seelig lächelnde Puppe des Mädchens. Eine kleine blasse Hand umklammerte immer noch den Arm des Spielzeugs, als das Gewitter endlich losbrach und sich Regen auf Josephines Leiche und ihre Puppe ergoß.

The Return Of JosephineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt