Wahnsinn

52 5 3
                                    

Alles drehte sich.
Verschwommene Lichter zuckten am Rande meines Blickfelds vorbei. Regentropfen brannten wie tausend Nadelstiche auf meiner Haut.
Was passiert nur mit mir?!
Meine zitternden Hände tasteten sich an den rauen Wänden der Häuser vorbei, oder klammerten sich an den eisernen Zäunen der Vorgärten fest, als ich blindlings durch die immerer zunehmende Dunkelheit stolperte.
Wie viel Zeit war vergangen, seit ich Alice' Haus verlassen hatte?
Hätte ich selbst nicht schon längst zu Hause ankommen müssen?
Der Regen hatte jedenfalls nicht nachgelassen.
Haarsträhnen klebten an meinen Wangen und meine Kleider waren völlig durchnässt.
Alles fühlte sich unsagbar verkehrt an und meine Sicht war trüb und verschleiert.
Mein Herz pochte hart von innen gegen meinen Brustkorb.
Was tue ich hier?!
Wie von selbst beschleunigten sich  meine Schritte.
Von einem Moment auf den anderen rannte ich los und stürtzte kopflos eine kleine Gasse zwischen zwei Häusern entlang.
Ich stolperte vor lauter Hast über meine eigenen Füße und schlug hart auf den Steinen auf.
Langsam setzte ich mich auf und betrachtete seltsam desinteressiert die dünnen Rinnsaale Blut, die aus meinen aufgeschürften Handflächen strömten.
Was...tue ich hier...?!
Ich kam wieder auf die Füße und stürmte sofort wieder los, ungelenk vor Müdigkeit und Erschöpfung.
Und da durchzuckte es mich, eine erschreckende Erkenntnis.
Die Wahrheit.
Ich bin auf der Flucht.
Aber vor was?!

Wie auf Kommando erscholl ein klirrendes Gelächter hinter mir.
Und es kam näher.
Rasend schnell näher.
Lauf schneller, Lizzy! Lauf!
Und da war sie wieder, die mir nur zu gut bekannte Panik, die mir augenblicklich die Luft zum Atmen nahm.
Mir aller Gewalt zwang ich dem dichten Nebel, der mich am Denken hinderte, zu verschwinden.
Ich mobilisierte meinen letzten Kräfte und rannte um mein Leben.
Straße um Straße, Häuserreihe um Häuserreihe.
Nach einiger Zeit hatte ich hoffnungslos den Überblick verloren.
Was auch immer mich hier durch die Nacht hetzte, es meinte es offenbar sehr ernst.
Von über all her schien das kindliche Gelächter zu kommen.
Es raubte mir den letzten Nerv, ließ meinen Verstand wirr und undurchsichtig werden.
Nun ja, wirrer, als er ohnehin schon war.
Ich wusste noch nicht einmal mehr, was mich verfolgte und warum ich vor ihm davon rannte.
Da war nichts außer Verzweiflung und Angst, Angst, Angst...
Tränen liefen über mein Gesicht, vermischten sich mit dem perlenden Wasser des Regens.

Und dann, ganz plötzlich, hörte es einfach auf.
Die Welt stand für einen Moment still.
Mein Geist klärte sich augenblicklich und ich atmete auf.
Sogar die Angst wich, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde.
Meine Schritte verlangsamen sich immer mehr bis ich schließlich ganz stehen blieb und anschießend erschöpft auf die Knie sank.
Es war, als würde ich aus einem grauenhaften Albtraum erwachen.
"Oh...", war alles, was ich herausbrachte.
Zitternd schlang ich die Arme um meinen Körper und richtete den Blick aufs Straßenpflaster.
Ich war total am Ende.
Körperlich und seelisch.
Ich war mir ganz sicher: so musste sich krankhafter Wahnsinn anfühlen.
So fühlte es sich an, wenn das Gehirn einfach den Geist aufgab.
So fühlte es sich an, wenn man innerlich einfach nicht mehr in der Lage war, mit der aktuellen Situation klarzukommen.
...Oder wenn etwas dich allmählich dazu brachte, den Verstand zu verlieren.
Ich stutzte.
Ja, das musste es sein.
Etwas wollte nicht, dass ich hinter sein Geheimnis kam.
Etwas nicht Jemand.
Meine Atmung beschleunigte sich augenblicklich und das Blut gefror mir in den Adern.
...Lizzyyyyyy...
Ruckartig hob ich den Kopf und spürte sogleich, wie etwas in mir zerbrach.
Nein!
Da stand sie.
Direkt vor mir auf der Straße.
Eine zarte Gestalt, unnachgiebig und absolut böse.
Das glodene Haar umgab ihr in altrosa geschminktes Gesicht wie ein tödlicher Heiligenschein.
...Spiel mit mir!...
Eine Stimme, kindlich und rein - und doch so diabolisch.
Sie klirrte in meinen Ohren, wie tausend zerschellende Eiszapfen.
...Spiel mit mir!...
Ihr Kleid war immer noch mit Schimmelflecken bedeckt, welche die rosèfarbene Pracht jedoch nicht gänzlich zu verderben wussten.
Langsam kam sie auf mich zu, Zentimenter um Zentimeter.
Ihre Füße berührten kaum den Boden, als sie sich mir näherte.
...Lizzyyy...
Ich konnte mich nicht rühren, ich konnte nur tatenlos zusehen.
Es war, als hätte man auch meine allerletzten Kraftreserven aus meinen Adern gesaugt und mich selbst als leere Hülle zurückgelassen.
...Lizzzyyyyyyyyy...
Ich schloss die Augen und atmete tief durch.
"Das ist nicht real", flüsterte ich mit zittriger Stimme,
"Das ist alles nicht real."
Mein Angst steigerte sich ins Unermessliche, als ich die Augen wieder öffnete und feststellen musste, dass das grinsende Monster immer noch vor mir stand.
Blut troff jetzt von den pink geschminkten Lippen des Mädchens, tropfte auf ihr Kleid und vermischte sich dort mit dem Wasser des Regens.
...Lizzzyyyy....
Meine Panik verleihte mir in diesem Moment ungeahnte Kräfte, jedenfalls schaffte ich es, mich aus der totengleichen Starre zu lösen, welche meine Glieder lähmte.
Stolpernd kam ich auf die Füße und rannte los, egal wo hin, hauptsache weg, weg, weg...
Ich schrammte an Hauswänden entlang, fiel gegen Gartenzäune und kämpfte mich durch Vorgärten.
Nichts hatte mehr eine Bedeutung, ich wollte einzig und alleine ihr entkommen.
Meine Brust schmerztze, als würde mein Herz in ihrem Inneren kollabieren und ich spürte, wie etwas warmes über meine zerbissenen Lippen rann.
Blut.
Es war plötzlich überall, klebte in meinen Haaren, auf meiner Kleidung, lief meine Arme hinab.
Mein Kopf schmerzte, als müsse er gleich in tausend Scherben zerspringen.
Wahnsinn.
Ich wusste nicht mehr, wo ich war.
...Spiel mit mir!...
Sie war immer noch da, wollte einfach nicht verschwinden.
Benommen und durcheinander stolperte ich über eine Bordsteinkante und fiel nach vorne.

Das Letzte, was ich sah, waren zwei grelle Scheinwerfer, die mit irrer Geschwindigkeit auf mich zurasten.
Erschreckt riss ich die Augen auf und setzte zu einem lauten Schrei an.
Doch ich kam zu spät.
Schon traf mich etwas mit voller Wucht.
Ich hörte ein lautes Splittern und das Kreischen von Metall.
Ich wurde brutal zu Boden geschleudert.
Schmerzen, unerträgliche Schmerzen, warmes Blut, das aus tausend Wunden rann.
Eine zarte Berührung an meiner Wange und gesprochene Worte.
"Sie haben mich ersetzt...", flüsterte eine Stimme, so hell und fein wie zartes Porzellan,
"Sie haben mich durch dich ersetzt."
Und dann war alles vorbei.

The Return Of JosephineWhere stories live. Discover now