P R O L O G

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A B I G A I L

Keuchend lasse ich mich in dem Versuch, mein schnell schlagendes Herz unter Kontrolle zu bringen, auf den Rasen fallen. Die Sonne brennt auf meiner Haut und ein wohliges Kribbeln erfasst meinen ganzen Körper, als ich lächelnd in den Himmel hinaufschaue.

Bar Harbor ist gar nicht mal so schlecht, wie ich am Anfang gedacht habe. Im Gegensatz zu New York, meiner Heimatstadt, sollte es hier todlangweilig und meilenweit kein Mensch zu sehen sein. Zumindest habe ich das vor unserer Ankunft vor zwei Tagen angenommen. Aber ich habe mich geirrt, was Bar Harbor angeht. Es ist keineswegs wie New York, die Stadt, in der nie Ruhe – oder etwas ziemlich nah dran – herrscht.

Hier ist es tatsächlich schön und entspannend, ganz gleich wie ich es in den vielen Artikeln im Internet gelesen habe. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, stundenlang unzählige Tabs mit Berichten über die Stadt geöffnet zu haben, um sie genauestens unter die Lupe zu nehmen, komme ich mir ziemlich albern vor. Ich habe allerdings versucht, über meinen neuen Wohnort so viel, wie es einem Menschen nur möglich ist, in Erfahrung zu bringen.

Tatsächlich zieht sich mein Herz bei dem Gedanken an meine ältere Schwester zusammen, die sich mein Geplapper über Bar Harbor angehört hat, und das, obwohl sie aufgrund ihres Studiums in New York zurückbleiben musste. Dabei haben wir beide, seit ich denken kann, ständig irgendwelche komischen Meinungsverschiedenheiten.

Dennoch vermisse ich ihre bissigen Kommentare und ihre Bemerkungen darüber, wie ich etwas Sinnvolles aus meinem Leben machen soll. Und auch, wenn es noch sehr wenige weitere Dinge gibt, die ich vermissen oder Menschen, mit denen ich nicht mehr in Kontakt bleiben werde, ist das befreiende Gefühl einfach atemberaubend. Wer hätte gedacht, dass es so einfach sein kann, sein altes Leben fast komplett auszulöschen, indem man bloß die Sachen packt, die alte Handykarte in Stücke zerschneidet und in eine andere, weit entfernte Stadt zieht. Erinnerungen sind das Einzige, das bleibt und auch diese werden mit der Zeit verblassen.

Zudem muss ich mich auch nicht mehr mit dem Getümmel an Menschen rumschlagen, welches schon immer lästig gewesen ist. Stattdessen kann ich meine Nachmittage am Eagle Lake verbringen. Oder in unserem Garten. Was für mich noch viel besser erscheint, weil wir in New York all die Jahre in einem Apartment gewohnt haben. Und nun, da wir unser eigenes Haus besitzen, weiß ich gar nicht, wie ich es die ganze Zeit in einer Wohnung ausgehalten habe.

Es kommt mir beinahe stickig vor. Selbst bei dem bloßen Gedanken daran kann ich nicht das einengende Gefühl runterschlucken. Es ist als wären meine Hände an Gitterstäbe gefesselt, die sich niemals brechen lassen.

Vielleicht muss man aber erst jahrelang in einem goldenen Käfig gefangen sein, um zu merken, dass man daran fast zerbrochen ist, dass man nicht länger die Person ist, die man ursprünglich sein wollte.

»Abigail!«, höre ich eine mir allzu bekannte Stimme von der Veranda aus rufen.

Nora.

Ich schließe leicht lächelnd die Augen und werfe meinen Unterarm über meine Augen, um mich so vor meiner jüngeren Schwester abzuschirmen. Zumindest hoffe ich, dass sie mich noch für einen weiteren unendlich langen Augenblick in Frieden lässt. Zu meinem Bedauern jedoch scheint sie sich nicht darum zu kümmern, dass ich gerade einen Moment für mich brauche.

Denn schon einen Sekundenbruchteil später höre ich sie die vier Stufen zu mir herunterrennen. Ihre zierliche Figur ragt über mir auf und stellt sich genau zwischen mich und die Sonne. Seufz. Habe ich gerade gedacht, hier hätte ich endlich meine Ruhe? Jap. Eindeutig bin ich mit diesem Gedanken zu weit vorangeschritten.

»Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«, fragt sie mich vorwurfsvoll, so, als hätte ich sie tagelang allein gelassen. Was beim längeren Nachdenken dazu führt, dass ich den Geistesblitz zu fassen bekomme, sie würde es nicht einmal bemerken, sollte ich sie tagelang allein lassen. Weil sie niemals allein sein würde.

Never Losing You | LESEPROBE |Where stories live. Discover now