K A P I T E L 1

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A B I G A I L

Kurz nach sieben Uhr schlendere ich mit einem begeisterten Gefühl die Treppe herunter.

Im Wohnzimmer läuft der Fernseher und mein jüngerer Bruder Wyatt klammert sich an Nora, während die beiden auf dem Boden vor dem Kamin sitzen und Mary Poppins schauen.

Mom und Russel liegen in der blauen Polsterecke und lachen gerade über etwas, das er ihr ins Ohr geflüstert hat.

Noch vor einigen Stunden standen auf dem Kaffeetisch und dem Boden mehrere Kisten mit Büchern, die jetzt ordentlich auf den Regalen entlang der Wand eingeordnet worden sind.

Mom hat sich bemüht, dem Haus Farbe und Wärme zu verleihen. Was sie tatsächlich geschafft hat. An den Wänden hängen Bilder von meinen Geschwistern und mir und gleich daneben hängt auch ein älteres Foto von meinem Dad und mir. Wir strahlen beide in die Kamera, die kleinen Fältchen um seine Augen deutlich sichtbar, wobei sie keinen Raum für Missverständnisse lassen, dass der Tag zu unseren Favoriten gehört.

Es ist an seinem Geburtstag vor fünf Jahren entstanden. An diesem Tag haben wir uns bei Paps zu Hause verkrochen, um all die neuen Filme zu schauen, die er während der Monate auf dem freien Ozean verpasst hat. Einige meiner glücklichsten Tage teile ich mit ihm, Tristan und Jessamine.

»Hey, Kiddo«, begrüßt mich Russel, sobald ich den ersten Schritt ins Wohnzimmer wage und zu dem senfgelben Sessel neben dem Kamin rübergehe. Voller positiver Energie lasse ich mich auf diesen plumpsen, genieße augenblicklich die weichen Plüschkissen in meinem Rücken. 

Ich begrüße meinen Stiefvater mit einem liebevollen Lächeln, das er sofort erwidert. Dann lasse ich meinen Blick zu meinen jüngeren Geschwistern wandern, die mit einem plötzlichen Kreischen ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Nora zieht gerade eine Decke über Wyatts Kopf, als dieser seine kleinen Hände nach mir ausstreckt und zu mir kommen möchte.

»Nora! Lass mich zu Abigail gehen!«, beschwert er sich, aber sie hört seit langem nicht mehr auf ihn. Stattdessen legt sie beide Arme um ihn, woraufhin er ergeben seufzt. »Ich hasse Mädchen. Außer Abigail.« Leise lachend schüttle ich den Kopf und zwinkere meinem Bruder zu, der mit sich machen lässt, was auch immer Nora möchte.

Russels Räuspern erfüllt das Wohnzimmer, so laut, dass es sogar das Gezanke meiner Geschwister übertönt und bei mir setzt sich eine klare Vorahnung fest. Oh, oh. Hier kommt das nächste Kreuzverhör, meine Damen und Herren.

»Was ist?« Ich wickle eine Haarsträhne um meine Finger, eine Angewohnheit, die von mir Besitz ergreift, jedes Mal, wenn ich mich auf etwas freue. Oder wenn ich gerade ein Stückchen Freiraum erhalte.

Pass bloß auf, dass du dich an den Bruchteil deiner Freiheit nicht allzu schnell gewöhnst, rügt mich diese außerordentlich nervige Stimme in meinem Kopf. Das Echo ihrer Worte kitzelt an meinen Ohren, entschlossen bleibe ich dennoch standhaft und widme mich der Gegenwart.

Russel mustert einen Augenblick lang meine Kleidung, dann wandert sein Blick vorsichtig zu meiner Mom, die unter seinem fragenden Blick die linke Augenbraue hebt. Als sein Versuch kläglich versagt, mit nur einem Blick Mom eine Erklärung zu entlocken, schießt sein Kopf erneut zu mir herum.

»Gehst du um diese Uhrzeit noch raus?«, möchte er wissen. In seiner Stimme schwingt kein Vorwurf mit, trotzdem merke ich, dass er selbst über die Idee nicht begeistert zu sein scheint.

Er macht sich genauso viele Sorgen wie Mom, wenn auch aus einem ganz anderen Grund, denn bei ihr geht es um die Kontrolle und bei Russel ...

Seine Sorge ist berechtigt, aber ich habe ebenso das Recht, über mich selbst zu entscheiden.

Never Losing You | LESEPROBE |Où les histoires vivent. Découvrez maintenant