Mamor am Meer

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Wir waren auf dem Weg zum Friedhof, um Oma und Opa zu besuchen.


Es war eine Reise, die wir jedes Jahr unternahmen, doch dieses Mal fühlte sich alles anders an. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel, und die Luft war schwer von Hitze und Staub. Es war einer dieser Sommer, in denen die Temperaturen in schwindelerregende Höhen stiegen und die Menschen sich in ihren Häusern verkrochen, um der sengenden Glut zu entkommen. Die Straßen waren menschenleer, und selbst die Tiere suchten Schatten in den wenigen Büschen und Bäumen, die in dieser kargen Landschaft wuchsen. 

Die Stadt, in der wir lebten, war klein und abgeschieden, umgeben von kargen Hügeln und der Weite des Meeres. Ihre Gebäude waren alt und aus hellem Stein gebaut, der im grellen Sonnenlicht fast weiß leuchtete. Die engen Gassen, die sich durch das Herz der Stadt zogen, waren voller Geschichte, doch heute waren sie still, als hätten die Häuser selbst beschlossen, der Hitze zu entfliehen.

Unser Ziel war der Friedhof, der hoch über der Stadt auf einer Anhöhe lag und einen atemberaubenden Blick über das Meer bot. Es war ein Platz, der von vielen geschätzt wurde, und doch war er ursprünglich nicht als letzte Ruhestätte gedacht gewesen. Vor vielen Jahren, als die Stadt begann zu wachsen und Touristen anzuziehen, hatte ein Geschäftsmann die Idee gehabt, dort oben ein Hotel zu bauen. Der Blick über das Meer und die Stadt war atemberaubend, und er dachte, es wäre der perfekte Ort für ein Luxusresort. Doch der alte Bürgermeister, ein Mann mit starkem Sinn für Tradition und Respekt vor den Toten, hatte diesen Plan entschieden abgelehnt. „Die Toten haben diesen Ort mehr verdient als irgendein Tourist", hatte er gesagt. „Und es gibt kaum noch Platz auf dem alten Friedhof." Seine Worte hatten Gewicht, und so wurde der Plan verworfen. Stattdessen wurde der Platz zu dem Friedhof, den wir heute besuchten, ein Ort der Ruhe und des Gedenkens.


Mein Vater hätte eigentlich heute mit uns kommen sollen, aber Onkel Augustus, sein jüngerer Bruder, hatte sich verspätet. Er war immer schon ein Freigeist gewesen, jemand, der das Leben in vollen Zügen genoss und selten pünktlich war. Dieses Mal war es jedoch nicht seine unbeschwerte Art, die ihn aufhielt, sondern ein Sturm, der seine Fähre zum Festland verspätet hatte. Die See war rau, und das kleine Boot, mit dem er reisen wollte, war nicht stark genug, um den Elementen zu trotzen. So musste er auf das nächste warten. Er würde morgen ankommen, wenn sich das Wetter beruhigt hatte, und dann würden er und mein Vater gemeinsam zum Friedhof gehen, um ihre Eltern zu ehren.


Auf der Ladefläche unseres alten Wagens lag ein Korb mit Essen, das speziell für den Besuch zubereitet worden war. Oma und Opa hatten es geliebt, abends zusammen zu sitzen, einen kleinen Schluck Schnaps zu genießen und dazu geröstete Nüsse zu essen. Es war ihr kleines Ritual gewesen, ein stiller Moment der Zweisamkeit, nachdem sie uns Kindern gute Nacht gesagt hatten und dachten, wir schliefen bereits tief und fest. Diese Tradition setzten wir nun fort, auch wenn sie nicht mehr bei uns waren.


Ich hatte meine Füße an den Sitz abgestützt und starrte aus dem Fenster. Je näher wir dem Friedhof kamen, desto kahler wurde die Landschaft. Die wenigen Bäume und Büsche, die in der Stadt noch etwas Schatten spendeten, wichen hier einer trockenen, staubigen Ebene, die unter der Sonne brütete. Die Hitze flimmerte über dem Asphalt, und der Himmel war ein endloses, glühendes Blau.


Hier und da konnte man einen Streuner sehen, der durch die Einöde schlich, auf der Suche nach etwas Essbarem. Die Tiere waren mager und scheu, und ihre Rippen zeichneten sich deutlich unter dem Fell ab. Wegen der Streuner war der Friedhof von einer hohen Mauer umgeben, die die Gräber schützte. Es war eine einfache Mauer, doch sie erfüllte ihren Zweck.

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