Kapitel 45: Leben und leben lassen (3)

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Es hätte ja auch Krebs sein können, hätten andere Menschen jetzt vielleicht gesagt. Oder Kinderdemenz, davon hatte ich irgendwann mal 'was gelesen. Autismus. Aber Down Syndrom ist doch halb so schlimm. Jeder würde da seine eigene Meinung haben, egal, wen ich fragen würde.

Natürlich konnte man das nicht vergleichen, jede Behinderung, Einschränkung, was weiß ich war erstmal ein Schock. Und Down Syndrom war auf gar keinen Fall „halb so schlimm".

Ich bestieg hinter Charlie die Bühne und er steckte den USB-Stick in die richtige Stelle des Mischpultes. Schon jetzt rasteten einige von den Leuten vor uns fast aus.

„Okay, go and kill it" Charlie klopfte mir auf die Schulter. Das war stets sein Ritual. Und dann war ich dran.

Doch heute war ich ganz bei Melina, die wahrscheinlich nur wenige Meter hinter mir stand. Ich dachte an das Baby. An dieses kleine Mädchen und irgendwie war ich mir auf einmal nicht mehr sicher, ob ich ein guter Vater sein würde. Für ein behindertes Kind.

Auch wenn ich mit meinen Gedanken heute mal woanders war, meinem Set tat es keinen Abbruch, eher schien es den Leuten nicht aufzufallen, dass ich abgelenkt war. Wäre ja auch noch schöner wenn jeder das merken würde.

Trotzdem war ich das erste Mal in meinem DJ-Leben froh von einer Bühne runterzukommen. Melina lehnte an einer der Stahlkonstruktionen der Bühne und wirkte mit einem Mal müde. Ich übergab Charlie meine Kopfhörer und ging auf sie zu.

„Hey" Ich legte ihr vorsichtig die Hände auf die Schultern. Ihr Blick glitt zu mir und sie lehnte ihren Kopf an meine Brust. „Du warst klasse", hörte ich sie murmeln und musste mich anstrengen, um sie zu verstehen. „Na komm, wir gehen wieder nach hinten" Ich legte ihr einen Arm um die Schultern und folgte mit ihr dem Rest.

Zurück in unserem Aufenthaltscontainer nahm sie sich wieder ein Glas Wasser und ließ sich neben mich auf das Sofa nieder. „Was denkst du jetzt, Tim?" Sie klang unsicher und ihre Finger krampften sich um das Glas, bevor sie doch einen Schluck trank.

„Ich...ich..." Okay, es war mal wieder ein Moment, wo einem schlicht und einfach die Worte fehlten. Ich konnte auf keinen Fall sagen „Alles gut, wir bekommen dieses Kind".

„Vielleicht...vielleicht...sollten wir uns ein wenig informieren-" Bevor wir Schlüsse ziehen. Bei dem Gedanken stellten sich mir förmlich die Haare im Nacken auf. Wir waren es sozusagen, die jetzt über Leben und Tod entschieden. Wie widerlich klang dieser Gedanke?

Melina zuckte die Schultern. „Aber nicht hier. Dazu brauchen wir Ruhe, schätze ich", meinte sie. Mein Blick wanderte kurz durch den Raum, außer Michael und Sean war niemand zu sehen.

„Ich gucke kurz wo der Rest ist, dann können wir vielleicht los" Man konnte sich ja nie so ganz sicher sein, wie lange die anderen noch hier rumhängen wollten. Aber Melina hatte Recht und auch ich wollte im Moment nicht mehr, als einen ungestörten Ort und mir über das Problem klarwerden.

Trotzdem dauerte es noch zwei Stunden, bis wir zurück in London waren. Ich hatte sogar überlegt, mit Melina auf eigene Faust zurück zum Hotel zu kommen, wenn der Rest nicht bereit wäre mitzukommen. Aber dann waren wir doch alle ins Flugzeug und zurückgeflogen.

Jetzt ließ ich mich auf dem Sofa im Hotelzimmer nieder. Melina war ins Bad verschwunden und ich rief Google auf. Down Syndrom also. Irgendwie erschien mir das immer noch so unwirklich.

Melina kam wieder aus dem Bad und als sie sah, dass ich Google bereits geöffnet hatte, nickte sie mir zu. „Bringen wir es hinter uns, was?" Als hätten wir einen Berg zu besteigen.

Feeling Good (Avicii-Fanfiction)Where stories live. Discover now