Lina Cox

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Lina Cox hat versucht sich umzubringen. Sie scheiterte.

Ich kannte ihre Gründe nicht. Ich kannte sie nicht wirklich. Sie war immer sehr still. Das Mauerblümchen schlechthin. So war mein Eindruck von ihr. Ich kannte sie ja nur aus meiner Mathestunde.

Sie hatte eine Überdosis mit Pillen versucht. Das weiß ich.

Als die Nachricht über ihren gescheiterten Selbstmord an unsere Schule gelangte, reagierte niemand so, wie ich es gedacht, vielleicht sogar erwartet hatte. Selbst ich nicht, und ich schäme mich dafür.

Anstatt ihr zu helfen, wurde ihr vor geworfen, sie hätte es getan, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Niemand reichte ihr die Hand und versuchte ihr zu helfen.

Manche sagten sogar, sie hätte sich lieber in den Kopf schießen sollen- das wäre dann wenigstens nicht gescheitert.

In was für einer grausamen Welt wir doch leben. Vor einem Jahr, rastete Lina in der Mathestunde völlig aus. Sie schrie.
Sie beleidigte.

Dann, ganz plötzlich, wurde sie still. Als wäre nichts passiert.

Sie strich sich ihren Rock glatt, den sie anhatte, lächelte uns alle an, und verließ den Raum.

Vier Stunden später fuhr ein Wagen des Notarztes an ihrem Haus vor.

Sie war tot.
Ihre Handgelenke waren aufgeschnitten.

Später ging das Gerücht rum, die Eltern hätten einen Brief gefunden.

"Ihr seid Schuld an meinem Tod. Mordkomplizen."

Aber es war nur ein Gerücht. Niemand nahm es ernst.

Aber es war unsere Schuld. Wir hatten ihr nicht geholfen. Anstatt froh zu sein, dass sie bei ihrem ersten Versuch nicht gestorben ist, redeten wir ihr ein, sie sollte sterben.

Also ja, wir sind Komplizen. Schuldig, weil wir ein Mädchen umbrachten. Mit unseren Worten.

Tod ist kein Ausweg. Und wir waren nicht die, die ihr die Rasierklinge in die Haut drückten. Aber wir waren die, die sie dazu brachten, daran zu denken.

Lina verdient Besseres. Sie ist eine Definition von "verdient Besseres".

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