My little Sister (Paranoia)

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Stell dir vor es ist Nacht. Du liegst auf deinem Bett und beobachtest durch das Dachfenster die Sterne.

Jeder einzelne deiner Muskeln ist auf das äußerste gespannt. Seit der Nacht, in der du deine kleine Schwester verloren hast, hast du nie wieder ruhigen Schlaf gefunden.

Vor vier Jahren hast du begonnen dich komplett aus der Außenwelt zurückzuziehen. Dein einziger Kontakt sind deine Eltern, aus der Schule bist du nach zwei Monaten auch gegangen.

Heute ist die erste Nacht nach diesem Tag, in der dich deine Eltern alleine Zuhause lassen.

Du hörst ein Geräusch im Flur und deine Gedanken beginnen Achterbahn zu spielen.

“Paranoia”, hörst du die Stimme deines Psychologen sich in deinem Kopf wiederholen. Sofort brennen sich die alten Bilder wieder vor deinen Augen ein. Du siehst dich selbst in der Ecke kauernd, schmerzhafte, unerhörte Schreie ausstoßend.

Mit aller Kraft zwingst du dich diese Erinnerungen erneut zu verdrängen und drückst mit zitternden Händen auf den Lichtschalter.

Ungewöhnlich hallende, langsame Schritte sind von außerhalb der Tür wahrzunehmen. Vorsichtig trittst du auf den Flur hinaus und dort steht sie.

Trotz des Lichtes ist es immer noch zu dunkel um mehr als nur die Umrisse  der Gestalt zu erkennen.

Vor dem geöffneten Fenster bleibt sie stehen. Es ist komplett still, das einzige wahrnehmbare Geräusch ist der Wind, der Kalt durch den Gang zieht und ihre langen, schwarzen Locken leicht nach hinten wehen lässt.

Monoton, elegant und langsam stellt sie sich auf die Fensterbank, breitet ihre Arme aus und stürzt sich hinab. Du fühlst nichts, nichts als pure Leere. Selbst die Angst ist verschwunden.

Genauso monoton und langsam wie sie bewegst du dich nun langsam auf das Fenster zu. Der Wind streift leicht deine Wange und Gänsehaut breitet sich auf deinem ganzen Körper aus. Langsam senkst du deinen Kopf und dort unten, auf dem steinernen Boden ist ein Zeichen. Euer Zeichen. Das Zeichen, dass ihr euch damals ausgedacht hattet und euch für immer verbinden sollte. Das Zeichen, das du noch immer als Kette um deinen Hals trägst.

Ein warmer Tropfen fällt auf deine Hand und lässt dich zusammenfahren. Erst jetzt bemerkst du, dass du angefangen hast zu weinen.

Ohne zu wissen warum, gehst du langsam die Treppenstufen hinunter. Du brauchst kein Licht anzumachen, diese Strecke hat sich in dich eingebrannt. Wie jede Nacht zählst du die Stufen, bis du schließlich im Wohnzimmer stehst.

Flimmernd geht der Bildschirm des Fernsehers an, ohne dass du die Fernbedienung auch nur angefasst hättest. Zwei fremde Mädchen starren dich an und wenden dann ihren Kopf zur riesigen Fensterfront. “Sie ist gekommen, um dich zu holen”, ertönt es aus den Lautsprechern.

“Du hast keine Schwester, Schatz. Du bist Einzelkind”
Die Erinnerung an die Stimme meiner Mutter treibt dir die Tränen in die Augen, doch sie hat gelogen, denn dort steht sie, deine Schwester.

Langsam und zitternd gehst du auf sie zu. Sie hat sich in den vier Jahren nicht ein bisschen geändert. Nur ihre strahlenden, blauen Augen sind schwarzen, emotionslosen Löchern gewichen.

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