Kapitel 39

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Ed Sheeran - Thinking Out Loud

Ich werde heute früher wach - erstaunlicherweise um 07:00 Uhr. Wow, was ist los mit mir? Ich höre Stimmen, die aus der Küche stammen und schlürfe langsam dahin. Meine Augen kriege ich nicht ganz auf, weil sie ziemlich geschwollen sind. Ranja und Can bereiten gerade das Frühstück zu. Sofort bemerkt mich Can und kommt auf mich zu. "Seit wann stehst du um diese Uhrzeit auf? Das ist nicht typisch für dich." Er gibt mir einen Kuss auf die Schläfe und übergibt mir dann ein Glas Wasser. "Ich weiß es selber nicht. Vielleicht bin ich noch im Uni-Rhythmus. Du weißt schon; Aufstehen, Butterkekse, von dir angemeckert werden, wegen den Butterkeksen, Vorlesung, Labor, Essen und dann schlafen." Ich versuche meine Augen weiter aufzukriegen, was mir aber nichts bringt. Ich fühle mich ja wie in meiner Pollensaison. "Wir müssen heute zur Desensibilisierung", erinnert Can mich. Stimmt, das habe ich vollkommen vergessen. "Was ist das?", fragt Ranja. "Ouh", murmele ich. Sie weiß ja gar nicht davon Bescheid. Ich wurde am selben Tag rausgelassen, wie ich eingeliefert wurde und bin nach Hause gelaufen. "Na ja, ich hatte einen... kleinen Allergieschock, weil ich doch etwas heftiger auf Erdnüsse reagiere, als mir guttut." Sie sieht mich tadelnd an. "Klein?", hakt Can nach. Finster sehe ich ihn an und will meine Augen zusammenkneifen, was nichts bringt, weil sie ja sowieso geschwollen sind. Es war im Grunde genommen deine Schuld, versuche ich ihm mit meinem Blick zu sagen. Er schaut weg. Ob er die Nachricht bekommen hat oder nicht, bleibt ein Rätsel. "Ein Wunder, dass du noch am Leben bist", staunt Ranja. Ich verdrehe belustigt die Augen und nehme ein Brötchen zur Hand. "Wie läuft es eigentlich mit dir und Nadim?", frage ich. "Es ist gerade etwas mies. Sein Chef macht Stress und deswegen ist er schlecht gelaunt. Männer und Stimmungsschwankungen", schnaubt Ranja. Ganz auffällig schaue ich zu Can, welcher verlegen auf seiner Gurkenscheibe herumkaut und meinen Kopf nach vorne dreht. "Ich verstehe dich, Ranja." Ich seufze theatralisch, woraufhin mir Can in die Seite pikst. "Iss und meckere nicht so viel, Rollmops."

"Bleibt artig und lasst die Wohnung heile." Vielsagend sieht mich Ranja an. Nicht zweideutig, sie will nur, dass ich auf mich selber aufpassen soll, weil sie den Tag im Hotel nicht vergessen kann, wo ich weinend und mit schmerzenden Knien auf mein Bett getragen werden musste. Seitdem war alles viel vorsichtiger, was von Ranjas Seite kam. Ich schließe mit einem kleinen Lächeln die Tür und helfe Can in der Küche, danach gehe ich mir die Zähne putzen. "Willst du es nicht auch tun?", frage ich mit vollem Mund. Can gesellt sich zu mir ins Bad. "Ich gehöre zu den Menschen, die es vor dem Frühstück machen." Mokant sehe ich ihn an und spüle meinen Mund aus. Danach puste ich ihn an. "Minzgeruch." Ich drücke meine Nase gegen seinen Mund und verziehe ohne Grund das Gesicht. "Frühstücksgeruch." Schmunzelnd kneift er in meine Wangen und küsst mich. Langsam fangen wir an zu tanzen. In meinen Gedanken spielt sich von Ed Sheeran -Thinking Out Loud ab. Ich werde gedreht und dann ganz nah an ihn herangezogen. Erst jetzt fällt mir auf, dass er müde aussieht und etwas kaputt. "Wie geht es dir?", frage ich. Er wirkt leicht angespannt und das gefällt mir nicht. "Ganz gut." "Hast du gut geschlafen? Bist du vielleicht müde?" Er verneint es. Ich sehe ihn an und bemerke seine Augenringe und seine leicht gereizten Augen. "Wieso lügst du?" Can legt seinen Arm um mich und läuft mit mir ins Zimmer. Was ist los mit ihm? Ist es wegen gestern? Hat er wieder Schmerzen gehabt? Wieso habe ich es nicht gehört?

Seufzend setzt er sich hin und hüllt mich in Decke ein. "Sag", fordere ich. "Ich habe Schuldgefühle." Aufmerksam sehe ich ihn an und nähere mich ihm. Ouh. "Wegen dir... ach, das ist kompliziert. Ich komme schon klar damit." "Wenn du damit klarkommen würdest, wärst du nicht die ganze Nacht wach geblieben, Can." Seine Augen zeigen Verblüffung. Denkt er wirklich, dass ich so etwas nicht bemerke? Wir sind doch Seelenverwandte. "Willst du dich nicht etwas schlafen legen? Vielleicht sind die Schuldgefühle dann weg." Ich zucke mit meinen Schultern. "Meinst du, weil ich dir Hilfestellung leiste und du manchmal ausrastest?", frage ich vorsichtig und lege die Decke ebenfalls um ihn. "Ja", seufzt er. Ouh. "Dafür kannst du nichts, Can." Er geht nicht darauf ein und übt auf seinem linken Arm Druck aus. "Manchmal wollte ich ihn mir als Kind wirklich abhacken." Überrascht schaue ich ihn an. Das Geständnis lässt mich zusammenzucken. "Ich konnte ihn damals sowieso nur ein Stück anheben, bevor er heftig gezittert hat. Dieses Zittern fühlt sich so an, wie kleine Elektroschocks, die erst aufhören, wenn der Arm wieder runtergenommen wird. Wenn man ungeduldig ist, ist die Heilung die Hölle." Ich will etwas sagen, aber ich weiß nicht was. "Denkst du, dass du ihn bald, ohne zu zittern, ganz hochhalten kannst?" Can zuckt mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Es bessert sich zwar immer, aber manchmal sind die Rückschläge so verdammt erniedrigend und demotivierend." "Du hast dir aber selber nie wehgetan, oder?" Ich stelle mir gerade einen kleinen Jungen mit schwarzem Haar und faszinierenden Augen vor, wie er traurig auf seinen Arm sieht und nicht einmal weiß, dass er schon damals an einer Erkrankung leidet. Can schaut beschämt weg. Sofort drehe ich ihn zu mir und lege meine Hände auf seine Wangen. "Was hast du getan?", flüstere ich. "Manchmal konnte ich nichts spüren, da habe ich einfach mal mit einer Rasierklinge gespielt." Mir wird übel und kalt. Es läuft mir eiskalt und gleichzeitig super heiß den Rücken runter. Wieso habe ich die Narben nie gesehen? Sofort schaue ich mir seinen Arm an, finde aber nichts. "Ich habe nicht zu feste geritzt. Es war so, als ob man zu feste rasiert hätte." Eine unangenehme Gänsehaut bedeckt meine Arme. Ich weiß nicht, was ist davon halten und dazu sagen soll. Ich bin echt schockiert und überwältigt. "Hattest du... diese Ausraster schon ganz früher?" Can nickt. "Man hat gesagt, dass es nur eine Phase sei, die jedes Kind durchmacht, nichts Bedrohliches. Da kann man sehen, wie dumm Ärzte doch eigentlich sind und wie wenig Anerkennung sie eigentlich verdienen." Es ist echt frustrierend, dass niemand Can wirklich weiterhelfen kann. "Und dieser Therapeut labert auch nur Scheiße. Shana, ich habe keine Lust dahinzugehen und wenn ich da bin, bin ich echt teilnahmslos."

AkzeptanzWhere stories live. Discover now