Ein Küken mit Krücken

521 47 12
                                    



Für alle, die sich bei der Benachrichtigung über dieses Update gefragt haben, ob sie vielleicht einen Termin beim Optiker vereinbaren sollten.

Ein Küken mit Krücken
Jolina

Um meine Eltern davon abzuhalten, ins nächste beste Flugzeug zu steigen, telefonierte Jenna geschlagene zwei Stunden mit meiner Mutter, die erst nachgab, als meine Tante versprach ein wachsames Auge auf mich zu haben und ich schwor, dass ich mich sofort bei ihr melden würde, wenn auch nur eine klitzekleine Kleinigkeit nicht so verlief, wie es die Ärzte vorgesehen hatten. Ich war mir nicht so ganz im Klaren darüber, was bei einem geschienten Fuß schiefgehen konnte – immerhin lautete meine einzige Aufgabe nichts zu tun (und im Nichtstun war ich echt spitze) – aber meiner Mom zu wiedersprechen schien mir momentan nicht gerade sinnvoll.

Weil ich trotz zweitägiger Bettruhe immer noch ausgelaugt war, schlief ich nach dem Telefonat schnell ein. Ich träumte seltsamerweise von einer Sonne, die in einem Laufgitter gefangen war, da es sich offenbar um eine Baby-Sonne handelte, die noch nicht alt genug war, um ihr eigenes Gravitationsfeld aufrechtzuerhalten. Kein Wunder, dass ich der Sonne am nächsten Morgen einen schiefen Blick zuwarf, ehe ich meinem Frühstück entgegenhumpelte und meiner Morgenroutine nachging.

Ich hatte bereits das eine oder andere Mal unser Treppenhaus verflucht. Die sieben Stockwerke mit Krücken bewältigen zu müssen, war keine Erfahrung, die dazu führte, dass plötzlich der Wunsch in mir aufkeimte, dem Architekten einen Dankesbrief schreiben zu wollen. Falls ich ihm jemals begegnete, hoffte ich einen Kaffee dabei zu haben, den ich ihm über das Hemd schütten konnte. Rache ist koffeinhaltig, wie man so schön sagt.

Meine Wanderung zur Schule kam mir länger vor als der Weg nach Mordor. Ich wollte vor Erleichterung beinahe weinen, als das imposante Gebäude endlich vor mir auftauchte. Wäre ich nicht so versessen darauf gewesen, nicht zu spät zum Unterricht aufzukreuzen, hätte ich mir vermutlich sogar die Zeit genommen, mich auf den kalten Marmor der Eingangshalle zu legen und meinem Frust freien Lauf zu lassen.

Sobald ich durch die Tür getreten war, wurde ich schon mir etlichen Wie-geht-es-dir-s begrüßt, die ich mit lächelnden Danke-mir-geht-es-bestens-s erwiderte. Ich wünschte mir, sie würden mich mit ihrer Fragerin in Ruhe lassen und wie ich so tun, als wäre nichts geschehen. Ja, das Rumhumpeln war lästig, aber ich hatte weder Schmerzen noch sonstige Beschwerden. Meine einzige Sorge war, dass mir dieser Scheinwerfer meine Chance auf eine gute Rolle in unserem Theater gekostet hatte. Etwas, was ich dem Scheinwerfer nicht verzeihen könnte.

Selbstverständlich hatte ich nicht vor kleinbeizugeben. Im Gegenteil. Ich würde umso mehr dafür kämpfen beim Casting einen guten Eindruck zu hinterlassen, um dann hoffentlich die Rolle der Alicia abstauben zu können. Die Rolle der Malerin, die seit Jahren um ihre Ehe kämpfte und trotz jeglichen Rückschlägen nicht aufgeben wollte, schien mir eine angemessene Herausforderung. Dass es sich bei Alicia um die weibliche Hauptrolle handelte, war vermutlich auch ein wichtiger Punkt bei meiner Entscheidung für sie vorsprechen zu wollen.

Ich ließ mich neben Elenora auf einen Sitz plumpsen und wartete wie meine Mitstudenten gespannt auf den Beginn des Unterrichts. Mr. Adams begann pünktlich wie ein Schweizer Uhrwerk und schnell wurde uns allen klar, dass ihn die Tatsache, dass uns bis zur Aufführung nur noch 22 Wochen blieben, nicht das geringste interessierte.

Nein, statt sich darauf zu konzentrieren, hielt er es für angebracht, uns eine weitere Lektion in Körperkontrolle üben zu lassen. Zum Aufwärmen, sagte er. Bei der Aussicht meine Bewegungen präzise ausführen zu müssen, um das darzustellen, was Mr. Adams gerade so durch den Kopf ging, warf ich meiner vermaledeiten Schiene einen bösen Blick zu. Leider heilte der Blick nicht auf wundersame Weise meinen gebrochenen Knochen.

Ich hievte mich mühselig auf die Bühne, Elenora reichte mir meine Krücken hoch und dann forderte uns Mr. Adams auch schon auf, Farn darzustellen. Dankbar wippte ich mich hin und her und freute mich, dass Farn in die Kategorie der Dinge gehörte, die auch mit gebrochenen Füssen in den Bereich des Möglichen fielen.

Die Meute Banditen, die aus dem Gefängnis ausbrach, gehörte ganz klar nicht in diese Kategorie. Während meine Kommilitonen auf leisen Sohlen über die Bühne schlichen, durchbrach ich die Stille mit jedem Aufsetzen der Krücken, die ich zum jetzigen Zeitpunkt am liebsten aus dem Fenster geschmissen hätte. Vielleicht sollte ich sie für den Unterricht mit Filz versehen. Vermutlich würde ich dann bei jedem zweiten Schritt den Boden begrüßen, aber wenigstens käme ich mir nicht mehr vor wie ein Pirat mit Holzbein unter leichtfüßigen Elfen. Beziehungsweise Banditen. Ein Pirat unter Banditen... Wie auch immer.

Auf die Banditen folgte eine Schar Hühner; die wohl am häufigsten imitierte Tierart des Planeten. Leier waren meine Hände mit den Krücken beschäftigt, und die ruckartige Gangart schien mir auch nicht so gelingen zu wollen. Im Endeffekt hüpfte ich mehr schlecht als recht auf einem Bein umher und versuchte wenigstens die Kopfbewegungen eines Huhnes nachzuahmen. Ich glich nicht wirklich einem Huhn, das musste ich selbst zugeben, eher einem...

»Küken«, hörte ich eine bekannte Stimme neben mir. »Dein Huhn ist mehr Küken als Huhn.« Noch bevor er dazukommen konnte, wusste ich bereits, was er als nächstes sagen würde. Für einen Moment überlegte ich mir, ob ich ihm ins Wort fallen sollte, um ihm zuvor zu kommen, oder die Schmach mit Würde über mich ergehen zu lassen. Ich entschied mich für letzteres. Ich versuchte mir einzureden, dass die Aussicht auf ein Lächeln von Lane, absolut keinen Einfluss auf meine Entscheidung hatte.

»Ein Küken mit Krücken!«

Ich sah ihn mit diesem Dein-Ernst-Blick an, scheiterte bei seiner fast kindlichen Freude über seinen eigenen Witz daran, den Blick aufrecht zu erhalten. Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen, bevor ich mich wieder abwandte und der nächsten Instruktion von Mr. Adams lauschte. Glücklicherweise lautete die, uns in einem Kreis für die Stimmübungen aufzustellen. Stehen war definitiv besser als Rumhühnern.

Stehen war definitiv nicht besser als Rumhühnern. Durch die einsteige Belastung rebellierte mein Rücken, mein gesundes Bein jammerte über das doppelte Gewicht und meine Hüfte war in einem derart seltsamen Winkel gekippt, dass ich mir sicher war, nie wieder gerade stehen zu können. Mr. Adams, der gerade über die Wichtigkeit der richtigen Körperhaltung predigte, hätte ich gerne irgendwo tief im Urwald ausgesetzt.

Mitten in einer Übung verließ Lane unseren Kreis, sprang (für meinen Geschmack) viel zu elegant von der Bühne, packte sich den nächst besten Stuhl, sprang damit zurück auf die Bühne (ich habe bis heute das Geheimnis nicht gelüftet, wie er scheinbar mühelos auf alle Bühnen springen kann, während er über jeden Bürgersteig stolpert, der sich ihm in den Weg stellt) und platzierte den Stuhl wortlos neben mir, um dann zu seinem rechtmäßigen Platz im Kreis zurückzukehren.

Woher er um meinen Wunsch nach einer Sitzgelegenheit gewusst hatte, wusste ich nicht. Ich studierte an der Frage auch nicht lange herum, sondern ließ mich augenblicklich auf den Stuhl gleiten. Ich hätte Lane definitiv küssen können für seine Hilfe. Also metaphorisch gesprochen. Nicht wortwörtliches Küssen. Daran hatte ich absolut, definitiv, ganz sicher kein Interesse.

-



Anmerkungen: Man stelle sich folgende Situation vor: Es ist kurz nach Mitternacht. Wie oft werde ich von Schlaflosigkeit geplagt, was mich zu einer verstörenden Erkenntnis führt. Das letzte Kapitel Jaune Caranri ist über ein halbes Jahr alt (Mir ist klar, dass zwischen dem einen und dem anderen keinen Zusammenhang besteht, aber man muss Gedankensprünge ja nicht verstehen, oder?). Ich nehme mit also fest vor, ein paar Worte an die Geschichte anzufügen. Nur habe ich selbstverständlich absolut keinen Schimmer, was hier eigentlich vor sich ging. So ende ich, während ich eigentlich schlafen sollte, im Wohnzimmer auf der Couch, knabbere an einer Scheibe Zwieback (ich liebe fucking Zwieback und ich habe keine Selbstkontrolle, wenn es um Zwieback geht) und ackere mich durch die bestehende Geschichte. Der vorherrschende Gedanke bei der ganzen Unternehmung schwankt zwischen „Ich sehe, dass ich damit auf etwas hindeuten wollte – wäre verdammt hilfreich, wenn ich noch wüsste auf was" und „Was zum Teufel hab ich mir gedacht, als ichdiesen Satz geschrieben habe?!" (Beispiel: Wir klatschten stürmisch los wie ein Rudel wildgewordener Seehunde). Naja, wie auch immer. Ich will keine Versprechen geben, was regelmässige Updates betrifft (wie das geendet hat, wissen wir ja), aber ich werde allemal versuchen mindestens noch ein zweites Kapitel in diesem Jahr zu schreiben (ha ha, ich bin eine wahre Komikerin).

Jaune CanariWo Geschichten leben. Entdecke jetzt