Kapitel 59

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„Annabelle."
Nach einem Augenblick, den man wohl als Wimpernschlag hätte beschreiben können, befand ich mich im Kaminzimmer, mit seinen wunderschönen roten Möbeln und dem ästhetischen Licht, das durch die großen Fenster fiel.
Erleichtert schloss ich meine Augen. Selbst wenn ich noch nicht wirklich da war, immerhin war ich nicht mehr weit davon entfernt.
Ein Unendlichkeitszeichen ersetzte die verstümmelten Ziffern in meinem Kopf. Ich war wieder in dem Raum zwischen den Zeiten, gefangen mit den Zeitlosen.
Zwei Gestalten saßen mir gegenüber auf einem dick gepolsterten Sofa. Ich erkannte beide wieder. Einer war Louis, der Farbige mit dem Pferdeschwanz, der andere der „Forschungsleiter", wie er sich genannt hatte. Seine Erscheinungsform hatte sich um kein Haar verändert. Nur ein leicht besorgter Ausdruck in seinen Augen zeigte Veränderung.
Louis schnipste mit seiner rechten Hand, und kratzige Musik erklang, wie aus einem anderen Leben.
„Zu deiner Beruhigung", erläuterte er. „Wir können nicht ganz einschätzen, was du durchgemacht hast." In seinem Gesichtsausdruck schwang ernsthafte Angst mit.
Ehrlich gesagt machte die Musik alles schlimmer, denn es handelte sich um Jazz, der mich nur allzu sehr an den Sommerball erinnerte – und meine Gedanken vernebelte. Ich sah Arthurs dunkle Augen, die meine suchten, als er mich über die Tanzfläche wirbelte. In meinen Ohren klang ein leises Reden, das sich unter die Harmonien mischte.
Die beiden Männer tauschten einen alarmierten Blick aus.
„Hey!" Louis winkte hektisch vor meinem Gesicht.
„Hm?" Ich fokussierte wieder auf seine markanten Gesichtszüge. Die Musik war verschallt.
„Wir haben dir so einiges zu sagen", meinte der Forschungsleiter. Der Farbige schaute mich beinahe mitleidig an, in seinen Augen war ein Schimmer Angst zu sehen.
„So wie beim letzten Mal", spottete ich.
„Es tut uns leid, Belle. Das war ein wenig... Verantwortungslos. Wir wollen dir wirklich helfen, und diesmal mit allem, was in unserer Kraft steht."
Louis ergriff das Wort. „Es gibt zwei Arten von Zeitreisenden. Als erstes sind da diejenigen, die schon immer diese Fähigkeit hatten. Wir vermuten nach jahrelanger Forschung, dass es sich um eine genetische Mutation handelt, die es ihnen ermöglicht, mehr Dimensionen durchschreiten zu können, als wir es tun."
Ich runzelte meine Stirn. Es klang immer noch absurd, trotz allem, was ich gesehen hatte. Eine solch simple Erklärung, Genetik, für solch einen komplexen Vorgang.
„Weißt du", sprang der Gelhaarige ein, „es ist so, wie einem Farbenblinden das Konzept von einem bunten Gemälde zu erklären. Er könnte sich nie vorstellen, dass Rot und Grün unterschiedlich sind, dabei macht genau ihr Kontrast vielleicht den Übergang von Himmel und Wiese aus. Genauso verhält es sich mit der Zeit."
„Was Jerome sagen möchte, ist, dass Zeit kein abstraktes Konstrukt ist. Stelle sie dir eher vor wie einen mäandernden Fluss, der sich seinen Weg durch das Nichts bahnt. In Kenntnis dieses Vorgangs – bewusst oder unterbewusst – lässt sich der Weg zwischen den einzelnen Schleifen überwinden. Und manche besitzen die Fähigkeit, die Farben, oder den Fluss, oder was auch immer für eine Metapher dir passend erscheint, zu sehen."
„Warum gibt es dann aber zwei Arten von Zeitreisenden?", fragte ich nach.
Louis seufzte. „Solange wie es diese Fähigkeit schon gibt, wissen die Menschen davon. Meist nur wenige, da die Betroffenen häufig ihr Leben lang nichts von der Fähigkeit bemerken oder es aus Angst geheim halten. Doch eine Forschungsgruppe an einem Londoner Institut, eine Handvoll vielversprechender Wissenschaftler aus den unterschiedlichsten Bereichen wie Medizin, Physik oder Molekularbiologie, stieß darauf. Eigentlich untersuchten sie verschiedene Antibiotika, als Jerome", er zeigte auf seinen Sitznachbarn, „eine Obdachlose vor dem Gebäude wegscheuchen wollte. Es war nach dem Krieg, einige Monate. Eine Kriegswitwe, die ihr kleines Kind in eisiger Septemberkälte versuchte, zu wärmen."
„Ich bekam Mitleid", erklärte der Genannte. „Also nahm ich sie mit ins Gebäude. Schließlich waren wir alle schlecht dran, und es war ein Wunder, dass unser Gebäude vom Krieg beinahe unversehrt geblieben war. Fast alle von uns hatten gedient und wir waren froh, uns wieder unserer eigentlichen Arbeit widmen zu können. Da würde eine Frau nicht stören, dachten wir uns.
Bald begannen wir zu reden, und die junge Frau erzählte mir von einem alten Familiengeheimnis aus der Familie ihres Mannes. Sie war bildhübsch, sie hatte diese besonderen, grün leuchtenden Augen. Ein Antlitz, wie es einem nur einmal begegnet." Er schwieg für einen Moment und faltete seine Hände, die er vorher nervös geknetet hatte.
„Sie erzählte mir davon, dass der Urgroßvater des Gefallenen, ein einfacher Bauer, einen schrecklichen Streit mit einem Nachbarn hatte, und jedem war klar, dass es blutig ausgehen würde. Sie bezichtigten sich gegenseitig des Diebstahls und Viehmordes, wobei es eigentlich anfangs um die Hand seiner Ehefrau ging. Eines Nachts ging dieser Urgroßvater mit einem mulmigen Gefühl ins Bett, denn er verdächtigte den Kontrahenten, eine Mordverschwörung zu planen. Ängstlich und verärgert äußerte er im Stillen einen schrecklichen Wunsch, nämlich, dass besagter Erzfeind nie das Licht der Welt erblickt hätte. Bis in die frühen Morgenstunden betete er, dass die Eltern des Nachbarn vor seiner Geburt gestorben wären.
Als der Hahn um sechs Uhr krähte, schlug der ängstliche Bauer seine Augen auf – und war an einem komplett anderen Ort. Er befand sich auf einer Wiese und blickte auf das Haus seines Kontrahenten. Nun beschloss er, dem Ganzen ein Ende zu setzen.
Er nahm sich vor, den besagten Feind im Schlaf zu überraschen. Das Einzige, was ihm durch den Kopf ging, war der Gedanke, dass der Streit ein Ende finden sollte. Dabei wunderte er sich nicht, dass er auf einer Freifläche aufgewacht war, auf der vor wenigen Stunden noch sein Haus gestanden hatte.
Im Morgengrauen legte der Urgroßvater ein Feuer, das den gesamten Hof auffraß. Vertraut man seinen Erzählungen, habe ihn nach der Tat eine große Reue überkommen. Ihm sei ganz übel geworden.
Wie aus einem schlechten Traum sei er aufgewacht, schweißnass in seinem Bett. Besessen war er zum Fenster gerannt, und dort, gegenüber, wo beinahe seit hundert Jahren das alte Bauernhaus gestanden hatte, das verhasste Haus seines Erzfeindes, war nun brauner Acker gewesen.
Der junge Mann rieb sich seine Augen, aber das Haus war spurlos verschwunden.
Er fragte seine Frau, ob sie wüsste, was damit geschehen sei. Doch sie war verwirrt – denn sie konnte sich an kein Haus erinnern, dass dort jemals gestanden hätte.
Er wurde ganz aufgebracht und fragte seinen Schwiegervater, der mit ihnen im Haus wohnte. Auch dieser schien nichts mehr davon zu wissen.
Seine Frau bekam Angst vor ihm und wollte ihre gemeinsame dreijährige Tochter vor seinen Fragen in Sicherheit bringen. Als sie diese jedoch an den Fenstern vorbei in die Küche tragen wollte, zeigte das Mädchen aufgeregt auf den Acker vor dem Haus.
‚Weg', rief sie, und lachte. ‚Das Haus ist weg.'
Der Mann wurde verrückt und schließlich flohen Mutter und Tochter vor ihm in die nächste Stadt. Und in der Gegend erzählte man sich seither immer von dem tragischen Brand von 1750 – 50 Jahre bevor besagter Urgroßvater geboren war. Man munkelt, dass der Verrückte noch hundert Jahre nach seinem Verrücktwerden dort gesichtet wurde."
„Er war ein Zeitreisender", folgerte ich.
„Genau. Und seine Tochter ebenso", setzte Louis nach. „Jerome war wie besessen von der Geschichte. Er zwang die Gruppe, Tests zu machen. Die junge Frau war genauso neugierig wie wir, und wir konnten so einiges über die Gabe herausfinden, denn ihre kleine Tochter hatte das Gen von ihrem Vater geerbt." Seine Augen glühten leidenschaftlich.
„Und dann?", fragte ich. Die Geschichte musste einen Nachsatz haben, einen Punkt, wo irgendetwas schiefgegangen war.
„Dann wurde unser Unterfangen zu einer staatlich geförderten Mission. Alles wurde streng geheim. Unser Ziel war es, durch neues Wissen den Krieg der Vergangenheit zu verändern und Vorteile für den Kalten Krieg zu verschaffen. Wir sollten die gigantische Anzahl an Toten verhindern und neues Territorium erobern. Internationale Forscher kamen dazu, wie ich." Louis' Blick verfinsterte sich ein wenig. „Ich verließ Frankreich, um in die Wahlheimat meines Vaters zu ziehen und mich dort dem Forschungsprojekt anzuschließen."
„Und wie sollte das alles gehen? Den Krieg verändern? Wenn nur dieses kleine Mädchen Zeitreisen konnte?" Mir waren die beiden nicht so ganz geheuer. Ich konnte nicht einschätzen, welche Mittel sie nutzen würden, um das zu bekommen, was sie wollten.
„Da hast du Recht. Deswegen schauten wir uns ihr Gewebe genauer an. Jahrelang forschten wir daran, bis uns im Jahr 1953 die Entdeckung der DNA einen Schritt weiter katapultierte. Wir wussten jetzt, dass man gezielt Erbgut anschauen konnte." Jeromes Augen leuchteten in dem falschen Sonnenlicht fast schon wahnsinnig auf.
„Und dann hatte einer unserer Kollegen eine revolutionäre Idee. Was wäre, wenn wir uns selbst dieses Gen implantieren würden?" Louis klang spöttisch.
„Wir entnahmen dem kleinen Mädchen Blut und spritzten es uns feierlich."
Die beiden schauten etwas betreten zu Boden.
„Und jetzt sind wir hier."
„Das verstehe ich nicht." Verwirrt runzelte ich die Stirn. Das alles machte keinen Sinn. Ich wusste doch eigentlich gar nicht wirklich, wo ich war, und dann behaupteten diese Männer vor mir, aus den Fünfzigern zu kommen und sich durch irgendwelche pseudowissenschaftlichen Taten ins Nirvana katapultiert zu haben.
„Erst bemerkten wir keine Veränderung, alle zwanzig Versuchspersonen zeigten keinerlei Symptome." Louis hatte wieder angefangen, zu erzählen, seine Augen wirkten stumpf.
„Doch nach einigen Stunden zeigte sich so etwas wie eine allergische Reaktion."
„Unsere Körper vertrugen das Blut nicht", sprang Jerome ihm bei. „Es begann als einfacher Ausschlag, dann kam Fieber hinzu. Wir dachten uns nichts dabei, einige spritzten sich sogar wie geplant noch mehr von dem Blut."
„Dann ging alles ganz schnell", führte Louis fort. „Binnen zwei Tagen war jeder Einzelne von uns an den Folgen des merkwürdigen Fiebers gestorben."
„Was?" Erstaunt starrte ich die beiden an. Gestorben? Wollten die mich für dumm verkaufen?
„Ja, wir sind alle tot und gleichzeitig auch wieder lebendig." Louis schaute mich abschätzend an. „Aber das wusstest du doch eigentlich schon, oder? Dieser Zustand ist nicht lebendig – aber es ist auch nicht ‚nichts', es ist einfach – anders. Eine andere Art des Vegetierens."
„Wir hatten Zeit – sehr viel Zeit", schaltete sich Jerome ein. „Mit den Jahren, in denen wir uns das Nichts eroberten, lernten wir nicht nur, es zu kontrollieren, sondern auch, es zu verstehen. Wir begriffen, dass wir in einer Außenwelt gelandet waren. Stell es dir wie ein Brettspiel vor. Nehme man an, dass alles, was sich auf dem Spielfeld abspielt, die Erde sei. Dann wären wir die Beobachter, die erstaunt zusehen, wie ihre Spielfiguren sich von allein bewegen."
„Irgendwann erinnerten wir uns an unsere Forschungen, als wir wieder zu unseren Körpern hier zurückgefunden hatten. Wir rekapitulierten unsere ersten Versuche und die Berichte des Mädchens, das durch die Zeit gereist war. Exakt fünfzehn Jahre hatte es sie zurückverschlagen, kurz vor den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.
Doch das wirklich Interessante war ihre Erzählung über den kalten, unheimlichen Raum, den sie durchschritten hatte. Schließlich waren wir uns sicher, dort hingelangt zu sein, in einen Raum zwischen den Zeiten.
Und noch eine Änderung hatte uns alle auf diesen Gedanken gebracht." Louis schaute mich vielsagend an.
„Das Unendlichkeitszeichen", stellte ich fest. Er hatte mir gegenüber doch erwähnt, dass er es gesehen hatte.
„Genau das", bestätigte er. „Es hatte sich in unser schwebendes Bewusstsein eingeschlichen, sodass es ziemlich lange dauerte, bis wir es bemerkten. Und dann schien es eine klare Botschaft zu vermitteln, nämlich, dass wir für immer hierbleiben würden."
„Jetzt stell dir mal vor, was für immer bedeutet", ergänzte Jerome. „Wir können uns nicht umbringen, denn wir sind ja schon tot. Wir können nicht fliehen, daran erinnert uns das Unendlichkeitszeichen."
„Doch wir sind nicht vollständig von der Außenwelt abgeschottet", stellte Louis klar. 
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Ein neues Kapiteeeeeel :D nach dem Monat wars ja auch fällig. Hier habt ihr endlich Antworten.

Zeitlos - Ein Sommer auf Hawthorne ManorWhere stories live. Discover now