Nachwuchs

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Es war noch früh. Zu früh. Woher ich das wusste? Ganz einfach: Geralt lag noch neben mir und strahlte angenehme Wärme aus, die ich heute ausnahmsweise auch wollte. Vorgestern hatte ich mich noch gescheut, in Unterwäsche neben dem Hexer zu liegen, doch heute war ich einfach froh, dass er da war und obendrein so angenehm warm. Ein kleiner Trost. Die ganze Nacht hatten mich Alpträume heimgesucht, die mir Derand zeigten, der auf mich losging, Derand, der starb, Derand, der in seinem Blut lag und mich anstarrte. Meine Schuld. Zumindest fühlte es sich so an. So mies hatte ich mich schon eine ganze Weile nicht mehr gefühlt. Vor ein paar Jahren schon mal, aber da war mein Schuldgefühl um einiges intensiver und berechtigter gewesen, die tote Person mir sehr viel näher und sie hatte mich obendrein niemals bedroht. Keine wirklich vergleichbare Situation, doch es änderte nichts daran, dass Geralt Derand nur tötete, um mich zu retten. Dass mich der Incubus angegriffen hatte - scheinbar grundlos - stand dabei auf einem anderen Blatt. Eigentlich sollte man meinen, mich ließe diese Sache kalt. In Filmen und Serien tat es das immer. Ich war die Letzte, die noch grinste, wenn das Blut spritzte, aber gestern war ich winzig klein mit Hut geworden, als mich Derands Blut tränkte. Am liebsten wäre ich einfach weggelaufen, doch ich war ja wie versteinert gewesen. Wie Geralt mich überhaupt irgendwohin gebracht hatte, entzog sich mir gänzlich.


Selbst das Fest, auf das Geralt mich gestern Abend mitgenommen hatte, hatte die düsteren Gedanken nicht vertreiben können, obwohl ich natürlich gute Miene zum bösen Spiel gemacht hatte, während ich schniefend und niesend an meinem Bier genippt hatte - übrigens scheußliches Zeug. Es war nicht Geralts Schuld, das ich nicht damit klar kam, wenn jemand einfach getötet wurde. Dabei war mir ja durchaus klar, dass das in dieser Welt nicht gerade ungewöhnlich war. Hier starben andauernd Leute - und nicht nur wegen der katastrophalen hygienischen Zustände und der miserablen medizinischen Versorgung. Doch mit Derands Tod war die bittere, harsche Realität dieser Welt über mich hereingebrochen. Jeder Gedanke an einen Traum war verflogen, jede Idee eines Komas vergessen.


Obwohl ich mittendrin war, schien es mir noch immer absurd. Wie konnte das alles wirklich sein? Hieß das, ich müsste jetzt jeden Tag um mein Leben fürchten, weil ich nicht wusste, ob mir ein Bandit oder Monster ans Leder wollte? Ohne Kampffähigkeiten, magische Kräfte oder auch nur Orientierung, von grundlegenden Dingen wie Geld, Kleidung und Vorräten abgesehen, war ich hier hoffnungslos verloren, sobald Geralt mich über hatte. Der Hexer, an dessen Rücken ich mich klammerte und versuchte, nicht zu weinen - mit wenig Erfolg - ahnte ja nicht, wie sehr ich ihn brauchte. Ich war völlig von ihm abhängig. Wie könnte ich das je wieder gutmachen? Vielleicht, indem ich ihm in Toussaint half, Milton zu retten? Ich wusste ja, wo der Mord stattfinden würde! Immerhin das, befand ich mit tränennassem Gesicht, Geralts Rücken anstarrend, könnte ich für den Weißen Wolf tun, auch wenn er es nie erfahren würde.


"Wir sollten uns langsam auf den Weg machen." Geralts raue Stimme ließ mich vor Schreck zusammenzucken. So schnell ich konnte, zog ich meine Hände von ihm zurück und suchte Abstand, obwohl das wohl eher albern anmutete. Wer konnte schon sagen, wie lange der Weiße Wolf wach war? Ihm war wohl kaum entgangen, dass ich die Nacht über geklammert hatte. Und selbst wenn ich ihn erst geweckt hätte, wäre ihm wohl nie die Nässe an seinem Rücken entgangen, die meinen Tränen geschuldet war. Eilig wischte ich mir über die Augen und nickte, so leise schniefend, wie ich nur konnte. Eigentlich war mir überhaupt nicht danach, das Bett zu verlassen, so ungemütlich das auch war. Meine Augen waren geschwollen, ich war müde und mir war kalt. Obendrein fühlte ich mich einfach nur zerschlagen und die Vorstellung, jetzt nach einem zweiten Greifen zu suchen, war alles andere als verlockend. Doch was half es? Die Kraft, mit Geralt darüber zu diskutieren hatte ich allemal nicht. Nicht heute.

Blood and Whine (Witcher III)Where stories live. Discover now