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Nun, seit Leos Geburtstagsfeier war einige Zeit vergangen. Zum Glück hielt er sich mehr zurück, was den Versuch betraf, sich Lia anzunähern. Denn sie hatte sowieso kein Auge mehr für den blonden Jungen übrig - Ihr Herz verschenkte sich immer fester an einen dunkelhaarigen, bärtigen, fast erwachsenen jungen Mann, der einfach jedes Interesse mit ihr teilte. Zumindest dachte Lia das. Egal, über was sie schrieben - und sie schrieben wirklich viel - immer lachten sie, immer verstanden sie sich, immer fühlten sie sich verbunden. Das war zumindest das, was Lia fühlte...Tiefe Verbundenheit. Vertrauen.


Der Oktober war dem November gewichen und genau so gelassen, wie eine Schneeflocke vom Himmel fällt, waren auch die Temperaturen gesunken. Es war recht mild und gelegentlich schneite es dicke Flocken. An anderen Tagen war es eisig glatt und der Wind zerzauste Lias Löwenmähne. Doch kein Wind, kein Regen und kein Eis konnte ihre Laune verderben. Sie fühlte sich so wach, so lebendig, so aufgeregt wie nie zuvor. In der Schule passte sie immer weniger auf (dabei war sie eigentlich eine gute Schülerin) und sie und Klara kicherten immer ausgelassener. Lia erwischte sich selbst dabei, wie sie öfters aus den Schulfenstern blickte, um vielleicht einen braunen Bart und eine blaue Beanie-Mütze zu entdecken. Bevor sie sich erklären konnte, wie sie sich fühlte, war ihr Klara mit einem deutlichen "Dich hat's voll erwischt. Du bist verknallt, Lia." zuvorgekommen. Und vermutlich, dachte Lia, vermutlich hatte sie recht.


Das komische an der Situation war jedoch, dass Lia und Paul noch nie miteinander gesprochen hatten. Man sollte doch meinen, dass sich zwei Menschen, die sich den ganzen Tag lang über das Handy schrieben, auch in der Lage wären, persönlich zu kommunizieren. Doch es kam einfach nicht zustande.


Morgens sah Lia Paul nicht mehr an der Bushaltestelle stehen. Wenn sie zur Schule kam, stand er bereits mit seinen Freunden auf dem Raucherhof. Dieser lag außerhalb des Zauns, doch wenn man auf das Schulgelände wollte, musste man notgedrungen an dem Platz vorbei. Nicht, dass Lia das gestört hätte. Ihr Herz pochte immer heftiger, wenn sie mit gesenktem Kopf und leisem Lächeln an der Gruppe Jungen vorbei lief. Ein wenig traurig war sie schon, dass sie noch nie mit Paul geredet hatte. Aber wer traute sich schon, als jüngeres Mädchen in eine Horde fremder Jungs zu stürmen und den Schwarm anzusprechen? Lia auf jeden Fall nicht.


Da sie also nicht die Initiative ergreifen wollte, beließ sie es beim Warten. Und das funktionierte für den Moment. Sie texteten sich ununterbrochen, etliche Bilder aus ihrem Alltag verschickten sie, sogar Sprachnachrichten tauschten sie aus. Abends hatten sie teilweise wirklich lange Gespräche über Gott und die Welt und Lia saß überglücklich auf ihrem Bett, während im Hintergrund Musik lief. Ihre Welt färbte sich rosarot und eine fröhliche Musik schien sie im Alltag zu begleiten.


Musik...Als Lia einmal versucht hatte, Klara ihre Gefühle zu beschreiben, da sagte sie: "Er hat für mich eine Welt geöffnet." Da hatte Klara sie nur verdutzt angeschaut. Wahrscheinlich hätte sie ihrer Freundin am Liebsten ein Fieberthermometer ins Ohr gesteckt. Letztendlich hatte sie ihrer blonden Hälfte aber nur gebannt zugehört. Und auch heute noch erinnerte sie sich genau an die blauen Augen Lias, die verträumt durch Klara hindurch schauten, als sie stammelte: "Er hat mir so viel Neues gezeigt. So viel Kunst. So viel Musik. Aber auch so viel von mir selbst. Ich fühle mich ganz anders."


Wie jede beste Freundin es tun würde, unterstütze Klara sie tatkräftig. Ständig fragte sie nach dem neusten Stand und riet Lia zu gewissen Handlungen. Immer wenn Paul auf dem Schulhof zu sehen war, stieß Klara ihr die Ellbogen unsanft in die Seite und riss voller Aufregung die Augenbrauen hoch. Manchmal rief sie auch etwas zu laut "Guck mal, wer da ist". Auf jeden Fall - so war sich Lia sicher - müsste jetzt die ganze Schule von ihrem Schwarm wissen, so auffällig verhielt sich Klara.


Was Klara jedoch für sich behielt war der Gedanke, der sie seit ein paar Wochen quälte. Warum sprach Paul sie nicht an? Offensichtlich hatte er Interesse an Lia, oder etwa nicht? War das etwa die neuste Jagdtechnik der älteren Jungen? Warten, und dann aus dem Nichts anspringen? Das Mädchen in die Horde Wölfe laufen lassen?


Und was Klara noch viel mehr beunruhigte war die Tatsache, dass Paul Lia kaum ansah, wenn sie an ihm vorbei lief. Lia sah das nicht, da sie immer mit roten Wangen ihre Schuhe begutachtete. Doch Klara merkte, dass Paul krampfhaft den Blick von ihr weghielt, sobald sie in der Nähe war. Wenn sie jedoch in der Ferne lief, klebten seine Augen nur so an ihr. Was sollte das? Wo war das Problem, sich kurz in die Augen zu gucken und einander anzulächeln, sodass einem das Herz schmolz? Machte man das nicht so, wenn man verliebt war?


Klara verstand sein Verhalten nicht. Sein schriftliches Ich und sein reales Ich, das mit einer Zigarette im Mund auf dem Raucherhof stand, die Schultern leicht nach vorne gebeugt, sie passten nicht zueinander. Klara nahm sich vor, der Sache nachzugehen. Sie wollte sich nicht umsonst als persönliche Detektivin und Beraterin bezeichnen.



Obwohl sie ihrer besten Freundin alles Glück der Welt gönnte, blieben ihre Augen wachsam und ihr Herz unruhig.

BROKEN (TRUST)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt