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Lia war im Stress. Das Klassenzimmer, das sie die letzten Tage dekoriert hatte, war gerammelt voll. Und so sah es nicht nur in ihrem Raum aus - Der ganze Flur war mit Menschen gefüllt und der mit Lichterketten geschmückte Schulhof brummte. Ehemalige Schüler tratschten mit ihren Lehrern, alte Freunde trafen sich wieder, längst vergessene Cliquen wurden wie durch ein Wunder wiederbelebt. Der Hauptgast des Abends war wohl der Alkohol, der die Köpfe der Besucher wolkig leicht machte und ihre Zungen lockerte.

Da in jedem der Räume eine Getränkebar aufgebaut war, gab es bereits so manche Alkoholleiche zu bewundern. Hier und da lallten Männer laut miteinander und bewunderten Frauen, die direkt vor ihnen standen. Manche von diesen liefen in enorm hohen Hacken herum, und zusammen mit dem Alkoholpegel konnte man sie als Gefährdung der Allgemeinheit einstufen. Laut kichernd wankten sie von einer Wand zur nächsten, wie lebendige Dominosteine.

Auch in der Schokoladenfabrik stand bereits eine lange Schlange hinter der Theke. Lia, Klara, Jenny und Felix hatten eine spätere Schicht und dementsprechend anstrengend waren die Besucher. "Ein Weizen", knurrte ein mittelalter Mann in seinen Bart. Man konnte seine Fahne über die Thekenwand hinweg riechen. Innerlich rümpfte Lia die Nase, bückte sich nach den Getränkekisten und holte eine Flasche des hellen Biers hervor. Professionell nannte sie ihm den Preis und lächelte ihn höflich an. Der Mann grummelte nur ein tiefes "Was?". Natürlich herrschte um sie herum ein hoher Lautstärkepegel, aber Lia hatte langsam und deutlich gesprochen. Genervt zeigte sie auf die Preisliste, die direkt vor der Nase des Mannes lag. Mehrere Sekunden lang starrte er in die Nähe von Lias Finger, kramte dann mühselig in seinem Portemonnaie und ließ schließlich einen Fünf-Euro-Schein auf den Tisch fliegen. Lia wollte ihm gerade sein Wechselgeld bringen, da war der Mann bereits verschwunden und ein neuer Kunde stand an der Theke.


Es war Leo.


Mit seinem schiefen Grinsen betrachtete er Lia, dann krempelte er sein blau-weiß kariertes Hemd hoch und lehnte sich mit seinem Ellenbogen an die Bar. Lässig ließ er seine andere Hand durch seine blonden Haare gleiten. "Na, Hübsche?", sagte er zwinkernd. Wow. Was sollte das bitte für eine Show sein? Lia war hin- und hergerissen: Sollte sie ihn aus vollster Lunge auslachen oder direkt vor ihm auf die Theke kotzen und sein schönes Hemd ruinieren? Option zwei klang mehr als verlockend. Bevor sie reagieren konnte, kam ihr Klara zuvor, die gerade eine Kundin bedient hatte: "Lass deine Finger bei dir, Leo." "Oh, warum? Ist sie etwa reserviert?", gluckste er. Dann sah er wieder zu der Blondine. "Für mich ist doch bestimmt noch Platz bei dir, oder nicht?"

Lia war das zu blöd. Sie funkelte ihn nur böse an und wollte sich gerade dem anderen Ende der Theke zuwenden, da griff Leo über die Trennwand hinweg nach ihrem Arm. Lia schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Neben ihr hörte sie, wie Klara scharf die Luft einzog und dann wieder von einem Kunden angesprochen wurde. Lia nickte ihr kurz zu. Ich regel das schon. Widerwillig drehte sich Klara wieder zur Theke um. Lia betrachtete Leo kühl. Was war nur aus ihm geworden? Früher hatten sie sich wirklich gut verstanden, aber der Macho, der jetzt vor ihr stand, war unerträglich. "Was willst du?", zischte sie. Leo lächelte. "Na na, nicht so aggressiv, wir wollen doch hier keinen Aufstand machen." Er kam mit seinem Gesicht näher an ihres heran. "Du siehst wirklich toll aus und ich finde, dass du etwas männliche Gesellschaft gebrauchen könntest. Du siehst so einsam aus." Lia rollte die Augen. Sie roch den Übeltäter, den sie auch in Leos Nuscheln hörte. Alkohol. Und nicht gerade wenig.


Sie besann sich zu einer ruhigen Antwort. Er hatte recht. Wenn sie hier ein Theater machen würde, würde das nur ihrer Klassenkasse schaden. Müde antwortete sie: "Danke für deine Fürsorge, aber ich bin hier auf keinen Fall alleine. Und auch Männer gibt es hier reichlich." Vielsagend deutete sie auf die Gruppe Ehemaliger, die um einen Stehtisch herum stand und laut sang. "Aber sicherlich keiner, der dich will", grinste Leo hämisch. Laut stellte Klara die Radler auf dem Tisch ab, die sie gerade verkaufen wollte. Wütend schaute die Brünette zu dem Jungen. "Es reicht. Lass deine dreckigen Finger von ihr, klar?", befahl sie ihm leise, aber eindringlich. Auch Jenny hielt in ihrer Arbeit still und sah zu Leo herüber. Felix zog sich aus der Affäre mit dem Vorhaben, neue Bierkisten zu holen. "Lia hat mir nicht gesagt, dass ich sie in Ruhe lassen soll", lachte der Blonde und verstärkte seinen Griff um ihr Handgelenk. "Lass mich endlich los, Leo", seufzte Lia. Obwohl ihre Stimme ruhig war, brannte Feuer in ihren Augen. Leos alkoholisiertes Gehirn ratterte lange. Dann stichelte er: "Ich verstehe nicht, warum. Einen Freund hast du nicht. Du hattest noch nie einen, oder? Warum denn nicht ich, wenn dich doch sonst keiner will?"

Wie bitte? Lia war stinkwütend. Ihre Wut wurde jedoch um Berge übertrumpft. Mit ihrem freien Arm hielt sie Klara fest, die jede Sekunde über die Theke springen und Leo verprügeln wollte. Auch Jenny war zur Hilfe gesprungen und zog an Klara, die Leo mit einem mörderischen Blick durchbohrte. Wären sie nicht von Menschen umringt gewesen, die glücklicherweise nur mit ihren eigenen Getränken beschäftigt waren, hätten die Jugendlichen vermutlich die feinste Schimpftirade aller Zeiten zu Ohren bekommen.

Die Situation stand kurz vor der Eskalation und Lias Puls war auf hundertachtzig. Ihr Handgelenk brannte bereits von Leos Griff und ihr anderer Arm würde Klara nicht mehr lange zurück halten können. Warum waren heute nur alle so gereizt? Sollte das nicht ein schöner Abend werden? Was konnte sie jetzt tun, um wieder Ruhe in den Raum zu bringen?



"Hey Kumpel, falls dir Lias Worte nicht reichen, hörst du sie eben nochmal von mir. Lass. Sie. Los."


Er war da. Paul stand auf einmal neben Leo, seine große Hand griff die Schulter des jüngeren Schülers. Aus kühlen Augen betrachtete Paul den Unruhestifter. Lia merkte, wie sich Leos Hand an ihrem Arm verkrampfte, als Paul seinen Griff verstärkte. "Lass sie los. Wenn sie dich wollen würde, müsstest du sie nicht über die Theke ziehen." Seine Stimme jagte Lia Schauer über den Rücken. Sonst war sie so sanft und warm, jetzt klang sie eisern.

Jenny schaute kurz zu dem Neuankömmling herüber, schüttelte den Kopf und rief: "Komm Leo, lass sie los. Ich spendier' dir ein Bier." Und tatsächlich ließ Leo ohne einen weiteren Kommentar von Lias Arm ab und marschierte mit gekränktem Ego an das andere Ende der Theke.

BROKEN (TRUST)Where stories live. Discover now