Michael

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Sie erkannte ihn sofort. Erlesener gekleidet als die anderen Männer und Frauen im Saal, drückte seine lässige Haltung stolzes Selbstbewusstsein aus. Die schulterlangen aschblonden Haare trug er in der Mitte gescheitelt, was sein vornehm-blasses Gesicht mit den breiten Wangenknochen weich, fast mädchenhaft erscheinen ließ. Sein energisches Kinn jedoch verriet Arroganz, das zierliche Bärtchen verdeckte kaum den hochmütigen Zug um den Mund, und die tiefliegenden grauen Augen funkelten spöttisch. Sie schätzte ihn auf Mitte Zwanzig und fand, dass er für ein Ungeheuer recht gut aussah.

Mit gelangweilter Miene winkte das Ungeheuer sie beide heran. Während Sylviane ihn bediente, hielt sie sich möglichst so, dass weder der Schein des Kaminfeuers noch das Kerzenlicht auf sie fiel, und wendete ihm entweder die Seite oder den Rücken zu. Dennoch wurde er bereits nach kurzer Zeit auf sie aufmerksam. „Wer bist du? Ich habe dich noch nie hier gesehen, und doch kommst du mir bekannt vor. Wie kann das sein, sag's mir!" Hart und fordernd klang seine Stimme.

Sie fiel in einen tiefen Knicks und senkte den Blick. Nein, Herr. Ich bin völlig bedeutungslos, ein Nichts. Sieh' mich nicht an, denn ich bin hässlich wie die Nacht, jedenfalls für dich ... Dies sprach sie aber nicht aus. Stattdessen piepste sie: „Oh Herr, Ihr täuscht Euch, heute ist mein erster Tag auf Burgfels. Mein Name ist Sylviane; Severin ist mein Oheim und Ziehvater. Ihr hattet mich zum Dienst befohlen."

Michaels Augen hefteten sich auf sie, als wollten sie sie einsaugen. „Oho - eine Carolin beehrt mein Schloss! Wie gütig von Severin, dass er dich hat gehen lassen. Hieß dein Großvater nicht Nikolas?"

Sylviane nickte.

„Ah. Hm, ich erinnere mich ..." Sein Blick verlor sich in weite, anscheinend sehr düstere Fernen.

Sylviane hielt den Atem an. Hatte sie etwas Falsches gesagt?

Dann schien er sich innerlich einen Ruck zu geben. „Wie auch immer ... Ich sage es nur einmal: Ich lege Wert auf Gehorsam, Fleiß und Pünktlichkeit! Wenn du das beachtest, wirst du nie Schwierigkeiten bekommen. Dann kannst du meine Großmut kennenlernen."

O weh! Da verzichte ich gerne darauf! Sie ließ den Kopf noch tiefer hängen. „Ich werde mich nach Kräften bemühen, Herr ..."

Mit klopfendem Herzen legte sie ihm den Braten auf den Teller. Gegen ihren Willen empfand sie Furcht; seine Nähe hüllte sie erdrückend ein. Es war etwas anderes, ihn nur vom Hörensagen zu kennen, als ihm tatsächlich gegenüberzustehen. Alles geschah zu rasch ...

Beim Weineinschenken goss sie ein paar Tropfen daneben, so sehr zitterten ihre Hände - aus dem Spiel war Ernst geworden. Ängstlich sah sie ihn an, einen seiner berüchtigten Wutanfälle erwartend. Doch zu ihrer Überraschung lächelte er nur mitleidig-amüsiert.

Augenblicklich erlosch die Panik in ihr, als hätte man Wasser aufs Feuer gegossen. Sie hatte einen Schwachpunkt entdeckt! Dass man vor ihm so offen Furcht zeigte, schien ihm also zu gefallen. Sie merkte sich diese Beobachtung gut und beschloss, sich fortan so scheu zu geben wie ein Kaninchen, das beim kleinsten Geräusch in Angststarre verfällt. Dies besänftigte ihn bestimmt am ehesten und machte ihn für alles andere blind. Und sie konnte in Ruhe ihren Plan verfolgen.

Aber was nur hatte er mit „Ja, ich erinnere mich" gemeint? Sie wusste, einst war das Schicksal der Familie Carol mit derer von Burgfels eng verknüpft gewesen - und der Grund, weshalb Nikolas den Status eines Halbfreien gewann. Doch wie stand es heute damit? Eine Gunst konnte man wieder verlieren. Michael von Burgfels dürfte die Vergangenheit herzlich gleichgültig sein. Sie durfte sich keine Unbotmäßigkeit erlauben.

„He, Carolin! Verdammt, träum' nicht!", erscholl die Stimme des Herrn. „Steh' nicht müßig herum. Wo bleibt der Wein?"

Stunden später schien es ihr, als hätte sie den Rest des Tages nichts anderes gehört als „Hole! - bringe! - komm' her'! Als endlich niemand mehr nach ihr verlangte, nutzte sie die günstige Gelegenheit und verschwand. In einer dunklen Zimmerecke streckte sie sich aus und massierte seufzend die brennenden Füße. Inzwischen musste es weit nach Mitternacht sein, und sie wusste immer noch nicht, wo sie denn schlafen sollte. Und wo war Peter Rentz? Den hatte sie nirgendwo mehr gesehen.

Für die Nacht suche ich mir eine Besenkammer, wo ich ungestört bin, nahm sie sich vor. Besser als nichts ...

Leider währte die behagliche Ruhe nicht lang, Schritte näherten sich. Dann stand der Drache vor ihr und schnaubte: „Hier steckst du also! Wir rackern wie die Blöden und du liegst faul rum!"

„Aber ich hab' doch den ganzen Tag ununterbrochen gearbeitet", jammerte Sylviane und gähnte herzhaft. „Wo ist übrigens mein Bett?"

Lisas Wangen färbten sich feuerrot. „Gearbeitet?? Du weißt gar nicht, was arbeiten heißt! Kein Wunder, dass es auf Hof Carol schlechter läuft, seitdem du dort bist", zischte sie. „Aber hier wirst du dich rühren, und zwar richtig, das schwör' ich dir! Jeden einzelnen Knochen sollst du spüren! Vorwärts!!"

Da zog Sylviane ein erschrockenes Gesicht und sprang auf die Füße. Mit Drachen war nicht zu spaßen.

In der Küche wurde Lisas Drohung Wirklichkeit. Sylviane musste Berge von schmutzigem Geschirr spülen, die Feuerstelle säubern und den Boden wischen, während die anderen Mägde mit Aufräumarbeiten beschäftigt waren. Irgendwann gab Regina endlich die Erlaubnis zur Nachtruhe. Erschöpft suchten die Mädchen ihre Schlafräume auf, und Sanne zeigte Sylviane ihre Kammer. Sie war winzig wie eine Mönchszelle und roch muffig, trotzdem war Sylviane glücklich. Einen Raum für sich ganz allein! So brauchte sie nicht das Lager mit mindestens zwanzig unbekannten Menschen zu teilen, die in allen möglichen Tonlagen durcheinanderschnarchten und -furzten, von den dabei entstehenden Düften und sonstigen Körpergerüchen ganz zu schweigen. Hundemüde warf sie sich auf den Strohsack und schlief auf der Stelle ein.

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