Die Verabredung

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Zwei Tage später kam der Frühling mit Macht; die Natur explodierte förmlich. Binnen kurzer Zeit hüllten sich die kahlen Bäume in ein prächtiges grünes Kleid, die Wiesen trugen bunten Blumenschmuck, durch die Luft schwebten Löwenzahnschirmchen und ließen sich überall nieder. Von einem wolkenlosen Himmel strahlte die Sonne und verschenkte reichlich ihre so lang vermisste Wärme. Endlich war es vorbei mit den kalten Winden und den ewigen Nachtfrösten! Neulich hatte es in einer Gegend bei Marburg sogar noch ein heftiges Hagelunwetter gegeben.

„Das gibt gewiss Arbeit für den Wolf", hatte Sylviane das Gesinde untereinander flüstern hören. „Die Hexen geben einfach keine Ruhe!" Um sich selbst sorgten sie sich nicht, denn sie fühlten sich dank ihm vor der Hexenbrut gut beschützt.

Sylviane hatte sich darüber sehr gewundert. Er ist ein Edelherr, der im Auftrag des Landgrafen unterwegs ist. Aber warum nennt man ihn „Wolf"? Frisst er Hexen etwa?

Danach zu fragen, hatte sie lieber bleibenlassen, wahrscheinlich war es klüger, auf das Gerede nichts zu geben. Es gab einen anderen Wolf, vor dem sie sich hüten musste - Michael nämlich. Wenn er wüsste, wie sehr sie heute ihre neue Freiheit genoss!

Sie befand sich vor den Toren von Burgfels und hütete die Schafe. Der Hütejunge selbst lag krank zu Bett und konnte sich vor Gliederschmerzen kaum rühren. Als ihr Regina den Auftrag erteilte, hatte sie eilends ein Bündel mit Proviant gepackt und war mit den Tieren hinausmarschiert, ehe noch irgendjemand auf die Idee kam, sie davon abzuhalten. Nur aus der stickigen Küche hinaus!

Und hier saß sie nun unter einem schattigen Baum und konnte sich an dem Anblick der blühenden Wiesen nicht sattsehen. Fast hatte sie vergessen, wie köstlich es draußen roch.

„Frei-frei-frei", sang sie vor sich hin. Wie eine unaufhörliche Melodie jubilierte dieser Satz in ihr. Für sie war heute Feiertag!

Liebevoll umsorgte sie die ihr anvertrauten Schafe, achtete darauf, dass sie genug zu trinken und das saftigste Gras zu fressen bekamen. Besonders die Lämmer, die fröhlich auf der Wiese herumsprangen, hatten es ihr angetan. Abwechselnd hob sie je eines dieser flauschigen kleinen Wesen auf den Schoß, streichelte es und träumte vor sich hin. Spatzen und Meisen gewöhnten sich an ihre Anwesenheit und ließen sich zutraulich unweit von ihr nieder. So konnte Sylviane ihr neckisches Treiben genau beobachten, ihr buntes Gefieder, das Beben der kleinen Kehlen, wenn sie die Schnäbel aufsperrten und zwitscherten. Das Leben konnte so schön sein!

Kurz vor der Abenddämmerung kehrte sie mit frischem Schwung, strahlender Laune und dem Duft von Sonne und Wind in ihrem Haar zurück, bereit, es von Neuem mit dem ungeliebten Dasein auf Burgfels aufzunehmen.

Hinter dem Burgtor traf sie auf Peter, der wie verzaubert vor ihr stehenblieb und sie offen anschmachtete. Sie kicherte in sich hinein. Ein bisschen Getändel kam ihr gerade recht! Vergnügt fragte sie ihn, ob sein Vorschlag noch galt, mit ihr im Schlossgarten spazieren zu gehen.

Sofort schoss ihm die Röte ins Gesicht. Er schien hocherfreut, krauste dann aber die Stirn.

„Was ist denn auf einmal?", fragte sie irritiert.

„Äh - du hörst dich so komisch an, so anders ...!?"

Verständnislos starrte sie ihn an, er starrte zurück ...

Dann begriff sie plötzlich. Im Überschwang hatte sie ihre Rolle völlig vergessen und mit ihrer normalen Stimme gesprochen! Rasch klopfte sie sich auf die Brust, räusperte sich ein paarmal und drückte die Stimme wieder in die höhere Tonlage: „Ach so - mein Hals fühlt sich rau an, habe wohl zu viel Wind abbekommen."

„Oje, hoffentlich kriegst du nicht auch noch das Fieber wie der Hütejunge! Der hustet ganz erbärmlich. Trinke am besten sofort warme Milch mit Honig, sonst wird's wieder nichts mit unserem Spaziergang! - Wann wollen wir uns denn treffen? Morgen Nachmittag wäre eine gute Gelegenheit, da reitet Crispin mit dem Herrn in den Wald aus; man will roden lassen, um neue Felder zu gewinnen. Wir haben den Park ganz für uns allein! Kannst du freibekommen?"

🔥Feuertanz🔥 #WattyLonglist #NobelAwards2018#Thebestwriteraward2018#HerbstAwardWhere stories live. Discover now