Sinneswandel

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Dass Ruki sie allein mit ihren Gedanken in ihrem Gästezimmer zurückgelassen hatte, war die schlimmste Strafe, die Annika sich vorstellen konnte, wie sie nach nur drei Minuten feststellte. 
Quälende Ungewissheit mischte sich mit der mindestens genauso schaurigen Erkenntnis, dass sie sich nun mit großer Wahrscheinlichkeit noch tiefer in den Schlamassel geritten hatte. 
Und noch etwas war ihr klargeworden. 
Sie befand sich in den Händen von vier Vampiren.
Das war ihr zwar schon zuvor bewusst gewesen, doch da hatten beim Gedanken daran noch ohnmächtige Wut und die Fragen nach dem Warum in ihr dominiert. 
Jetzt allerdings bedeuteten diese Umstände ehrliche Angst, die sie zuvor unter unvernünftigem Zorn begraben hatte. Ihr wäre es auch im Nachhinein noch lieber gewesen, wenn Ruki sie sofort mit dem Tod oder dergleichen bestraft hätte, seine unbewegte Miene und seine kalten Worte jedoch waren einfach nur unbeschreiblich angsteinflößend gewesen. 
Und noch etwas hatte er ihr eingeflößt – Respekt. Respekt, an dem sie es zuvor eindeutig hatte mangeln lassen, und diesen unbedachten Gefühlsausbruch bereute sie bereits jetzt, nicht einmal fünf Minuten später, zutiefst. Er hatte ihr einen Denkzettel verpasst, den sie so schnell sicherlich nicht mehr vergessen würde, er hatte sie auf einprägsame Weise wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Und eine dieser Tatsachen war – er war ihr überlegen und sie konnte ihm nicht so einfach entkommen. 
Sie hatte sich in ihm getäuscht. Er hatte ganz anders reagiert, als sie erwartet hatte, und das beunruhigte sie beinahe am meisten. Er war wirklich unberechenbar. 
Annika fröstelte. 
Sie hatte sich, seitdem Ruki sie alleingelassen hatte, nicht von der Stelle bewegt, beinahe als fürchte sie, dass sie irgendeine falsche Bewegung machen könnte. 
Nun jedoch löste sie sich aus ihrer Starre, legte im Vorbeigehen die Schere wieder auf den Schreibtisch und trat dann wieder ans Fenster, durch das die kalte Nachtluft hereinwehte. Sie zögerte einen Augenblick, dann schloss sie es wieder. 
Sie schluckte. 
In ihrem Magen hatte sich innerhalb der letzten Minuten ein unangenehmer Knoten gebildet, so zumindest fühlte es sich an. Sie fühlte sich elend und in gewisser Weise fürchtete sie sich beinahe vor sich selbst, denn sie hatte vollkommen die Beherrschung verloren und alle Rationalität war in dieser albernen Hysterie ertrunken, in die sie sich hineingesteigert hatte … 
Und so eigenartig es klingen mochte – irgendwie war sie Ruki sogar dankbar. 
Annika legte eine Hand an das kühle Fensterglas und sah nach unten, und auch wenn da nur Nachtschwärze zu sehen war, musste sie bei dem Gedanken an das, was sie beinahe getan hätte, schwer schlucken. Sie konnte es nicht einmal gedanklich beim Namen nennen. 
Wie tief bin ich nur gesunken?, fragte sie sich und schüttelte dabei fassungslos den Kopf. Lasse ich mein Leben wirklich von solchen unsinnigen Launen bestimmen? Von anderen? Sie dachte an ihre Mutter, ihren Vater und vor allem an diese sieben Vampire, die ihr Leben so plötzlich umgekrempelt hatten. 
Ja, es war harte Kost, aber Gott, eigentlich liebte sie ihr Leben doch …
Aber was, wenn ich es jetzt verspielt habe?, fragte Annika sich bang. Sie dachte unentwegt an Ruki und daran, wie sehr sie ihn vermutlich verärgert hatte. „Verärgert“ war mit Sicherheit überhaupt kein Begriff dafür, aber ein besserer fiel ihr im Augenblick auch nicht ein. Vermutlich hätte es einer Wortneuschöpfung bedurft. 
Er ist ein Vampir, rief Annika sich zum wiederholten Mal ins Gedächtnis und fuhr sich verzweifelt durch die blonden Locken. Möglicherweise ist er Jahrzehnte, Jahrhunderte älter als ich und vor allem sehr viel stärker. Und nach allem, was ich hier gehört und gesehen habe, schätzen er und seine Brüder Menschen wohl nicht besonders. Sie atmete tief durch. Gott, was habe ich nur getan? Mit unsicheren Schritten ging sie zu einer zweiten Tür im Zimmer, von der sie nicht wusste, wohin sie führte. Denn es stimmt doch … er hat mir bisher nichts getan und es gab keinen Grund, ihn so anzugehen. Seine Brüder vielleicht, ja, aber nicht ihn … Am liebsten hätte sie ihren Kopf gegen das Holz der Tür geschlagen. Ich bin nicht nur ein schrecklicher Gast, ich habe sie auch noch angeschrien und einen von ihnen beleidigt, nachdem sie mich ohne Frage gerettet haben … Wie dumm kann ein einzelner Mensch eigentlich sein?
Überrascht stellte sie fest, dass hinter der Tür ein eigenes Badezimmer lag, das zu dem Gästezimmer gehörte und sogar ziemlich geräumig war. Gut, bei diesem Luxusbau wunderte das eigentlich auch nicht mehr so wirklich. Und nach allem, was heute sonst noch so passiert ist, fügte Annika gedanklich seufzend hinzu. 
Ihr Blick wanderte zum Waschbecken und sie dachte daran, wie sehr ihr Blut den Ältesten der Mukami-Brüder aufgewühlt hatte. Ja, das wusste sie. Sie hatte es gesehen, dieses Verlangen, wie auch seine jüngeren Brüder es verspürt hatten, für einen winzigen Moment war es in seinen Augen aufgeflackert wie eine kleine Kerzenflamme. Und er hatte dem widerstanden. 
Er hatte es kaum zu erkennen gegeben, seine Maske aus beinahe herrschaftlicher Ruhe war wirklich nahezu perfekt, aber eben nicht ganz. Und Annika ahnte, dass seine Wut vor allem daher rührte, dass sie eine solche Wirkung auf ihn hatte. Er war niemand, der sich oft eine Blöße gab, ganz im Gegenteil, da war Annika sich sicher. Und sie hatte es auch noch gewagt, ihn mit seiner Schwäche, die er zuvor vielleicht selbst nicht gekannt hatte, zu provozieren. Das musste in seinen Augen ein wahrlich schweres Verbrechen sein. 
Annika trat an das Waschbecken heran und warf einen Blick in den Spiegel. Trübgrüne Augen blickten ihr entgegen, gerötet vom Weinen, aber noch viel deutlicher war die Rötung ihrer rechten Wange zu erkennen, die Schwellung hatte auch schon eingesetzt. 
Annika seufzte. „Das hab’ ich wohl verdient“, murmelte sie niedergeschlagen und inspizierte dann die Schnittwunde an ihrer Schulter. Eine feucht schimmernde Kruste dunklen Blutes hatte sich gebildet und fungierte so als natürliche Wundabdeckung. 
Mit nassen Händen fuhr Annika über ihre Haut und wusch das angetrocknete Blut ab, und als neues nachkam, tupfte sie es mit einem Taschentuch, das sie aus ihrer Hosentasche gekramt hatte, auf. Dann drückte sie es auf die pochende Wunde, bis die Blutung aufgehört hatte. Den Schmerz ignorierte sie dabei, nein, vielmehr war es ebendieser durchdringende, kontinuierliche Schmerz, der ihr half, weiterhin rational zu denken. 
Als schließlich kein neues Blut mehr aus der Wunde sickerte, atmete Annika tief durch und dann kam ihr ein Gedanke, der nichts als Nervosität in ihr auslöste. Ich muss das tun, sagte sie sich dann, ging mit schnellen Schritten zurück in „ihr“ Zimmer und dann weiter, hinaus in den Flur. Nach alledem hat er mich doch immerhin nicht getötet … nein, im Gegenteil … Dank ihm lebe ich noch … Es war ein eigenartiges Gefühl, das sich in ihr ausgebreitet hatte, es ließ sich nicht beschreiben. 
Vom Flur aus ging sie schnurstracks zur vierten Tür rechts, Hime hatte ihr zuvor noch beiläufig erklärt, welche Zimmer sich im zweiten Stockwerk befanden. Ja, und hinter dieser Tür lag Rukis Zimmer. Als Annika davorstand, zögerte sie, doch dann hob sie langsam die Hand und klopfte endlich, zuerst ein wenig zaghaft, doch dann ein bisschen energischer.
Die Antwort ließ einen Moment auf sich warten. „Herein“, erklang dann Rukis herrische Stimme von der anderen Seite der schweren Holztür. 
Annika schluckte. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, ermahnte sie sich jedoch und drückte nun entschlossen die Türklinke herunter. Dennoch trat sie doch eher zaghaft ein. Aber vermutlich war ein gewisses Maß an Demut nur allzu angebracht, wenn sie diesem Vampir wieder unter die Augen treten wollte. 
Als Ruki, der in einem Sessel vor dem kalten Kamin gesessen und gelesen hatte, sich erhob und sein Buch zuschlug, zog Annika unwillkürlich den Kopf ein und senkte den Blick. Ja, dieser Mann war wirklich die Personifikation des Wortes „Respekteinflößend“. 
„Du bist es“, stellte Ruki einfach nur fest und er klang dabei, als leide sie an Aussatz.
Schnell hob Annika den Blick wieder und sie versuchte, dem seinen standzuhalten, doch diese eisgrauen Augen machten es ihr wirklich denkbar schwer, sodass sie ihm immer wieder unwillkürlich auswich. Dennoch wollte sie nicht einfach so vor ihm einknicken. Ich muss da jetzt durch, schärfte sie sich zum wiederholten Mal ein. 
„Was willst du noch?“, wollte der Schwarzhaarige nur mäßig interessiert wissen, allerdings klang er weder unhöflich noch verärgert, und das wunderte Annika in gewisser Weise. Allerdings umgab ihn noch immer diese … Kühle. Ja, „kühl“ schien ein Wort zu sein, das den Ältesten der Mukami-Brüder in jeder seiner Facetten beschrieb. 
Annika öffnete den Mund, um ihm zu antworten, doch beim ersten Anlauf brachte sie kein Wort heraus. „I-ich …“, stotterte sie dann, doch es fiel ihr unglaublich schwer, die richtigen Worte, die sie sich zuvor sogar noch sorgsam zurechtgelegt hatte, sinnvoll aneinanderzureihen. 
Am liebsten wäre sie im Boden versunken. 
„I-ich wollte mich … entschuldigen“, stammelte Annika dann endlich nach einer gefühlten Ewigkeit, in der Ruki sie einfach nur stumm ansah. Und Himmel, Annika hatte das Gefühl, dass er es richtig genoss, sie damit zu quälen. „Ich bitte dich … ehrlich um Verzeihung“, präzisierte Annika nun jedoch ein wenig sicherer und nickte dazu bekräftigend. 
Annika war sich nicht sicher, vielleicht täuschte sie sich, aber für einen winzigen Augenblick glaubte sie, so etwas wie Verwunderung in Rukis Augen lesen zu können. Es war sehr schwer, seine absolut unbewegte Mimik zu deuten, aber von Zeit zu Zeit ließen zumindest seine Augen erkennen, was er dachte. Nun, zumindest wenn man diesem Blick gewachsen war. 
„Und weiter?“, wollte er nun mit ruhiger Stimme wissen. 
Einen Augenblick wusste Annika nicht, worauf er hinauswollte, doch dann gestand sie sich ein, dass es mit einer einfachen Entschuldigung wohl nicht getan war. Darum startete sie einen erneuten Versuch, ihr Gewissen wieder reinzuwaschen. 
„Ich bin respektlos gewesen“, erklärte sie darum aufrichtig. „Und … es tut mir sehr, sehr leid. Ich hätte diese Dinge nicht sagen dürfen.“ Sie stockte einen Moment. Von Zeit zu Zeit fehlten ihr die richtigen japanischen Worte, um sich vernünftig auszudrücken, und Himmel, das machte die ganze Sache nicht unbedingt einfacher. Doch dann erinnerte sie sich daran, dass man sich hierzulande sowohl bei Bitten als auch bei Entschuldigungen zu verbeugen pflegte, und auf sie traf wohl beides zu, daher legte sie kurz ihre Hände aneinander und verbeugte sich. Es fühlte sich merkwürdig an, sie hatte sich noch nie vor irgendwem verbeugt. 
Als sie wieder aufsah, war der Blick des Schwarzhaarigen unverändert ernst und Annika musste schwer schlucken, fürchtete schon, irgendetwas falsch gemacht zu haben. Umso erleichterter war sie, als Ruki den Blick schließlich kurz senkte und dann kaum merklich nickte, ehe er ihr unvermittelt den Rücken zuwandte. 
Einen Moment schwieg Annika noch, doch als er nichts weiter tat, holte sie erneut Luft, um sich ihm zu erklären, so weit es ihr eben mit ihrem noch immer etwas beschränkten Vokabular möglich war. Doch sie wollte ihm verständlich machen, wie es hatte passieren können, dass sie sich so sehr gehenließ. 
„E-es ist nur so …“, begann sie zögernd und auch ein wenig plump. „Ich war so schrecklich aufgewühlt, nachdem diese drei anderen Vampire mich vor der Schule überfallen hatten. Das ging mir alles viel zu schnell. Ich hatte doch keine Ahnung, wo ich hier bin und was ihr vorhabt … Und dann war da vorher noch diese Sache mit meinen Eltern und dem Umzug und der neuen Schule, das alles war viel zu viel für mich …“
Da wandte Ruki sich wieder zu ihr um. „Habe ich dich nach dem Grund deines ungezogenen Verhaltens mir gegenüber gefragt?“, wollte er knapp wissen, seine Stimme klang frostig. 
Sofort zog Annika wieder den Kopf ein. „N-nein“, antwortete sie, zugleich beschämt und vor den Kopf gestoßen. Nein, natürlich interessiert ihn das nicht, dachte sie nun tatsächlich peinlich berührt. Er ist ein Vampir und ich bin nur eine Idiotin, die sich selbst nicht im Griff hat. Er hält mich für seiner nicht würdig und … damit hat er wohl auch absolut Recht, gestand sie sich selbst ein. „Es tut mir leid … Ruki-san“, fügte sie darum hinzu und senkte zuerst den Blick und dann ihren Kopf, eine nahezu unwillkürliche Geste der Unterwürfigkeit.
Sie schreckte auf, als Ruki sein Buch auf den Tisch legte, es war kein lautes Geräusch, aber Annika war schreckhaft geworden innerhalb der letzten Stunden. Als er sie dann wieder ansah, wagte sie es kaum noch, seinem Blick zu begegnen, aber schließlich tat sie es doch, weil sie das Gefühl hatte, dass er es von ihr erwartete, und so gehorchte sie ihm. 
„Es ist bereits ein Uhr“, teilte er ihr nun mit. „Du weißt, wo du die Nacht verbringen kannst. Deine Schultasche liegt im Erdgeschoss, im Eingangsbereich.“ 
Annika nickte hastig. „Danke“, sagte sie knapp, weil sie auch glaubte, dass er das von ihr hören wollte, dann machte sie eilig zwei Schritte zurück, und als sie die Tür in ihrem Rücken spürte, wandte sie sich um, riss sie auf und verschwand fluchtartig in den Flur. 
Dort zögerte sie nur einen winzigen Augenblick, dann lief sie zurück zu dem Zimmer, das ihr zugewiesen worden war. Vermutlich war es klüger, niemanden mehr durch ihren Ungehorsam zu reizen. Zudem erschienen Rukis Worte – so kalt sie auch gewesen sein mochten – wie eine Garantie für ihre Sicherheit. Er war vielleicht kein Freund von großen Worten oder übermäßiger Gastfreundschaft, aber er wirkte auch nicht übermäßig listig. 
Andererseits haben es listige Menschen so an sich, dass man ihnen ihre Verschlagenheit zunächst überhaupt nicht anmerkt, stellte Annika fest, nachdem sie die Tür ihres provisorischen Zimmers hinter sich geschlossen hatte. 
Vor allem aber bemerkte sie, dass sie kaum noch dazu in der Lage war, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Sie war unsagbar erschöpft. „Kein Wunder“, murmelte sie leise. Drei Vampire hatten ihr Blut getrunken und es war mitten in der Nacht. Eigentlich grenzte es ein Wunder, dass sie noch immer auf eigenen Beinen stehen konnte. 
Sie musste sich unbedingt ausruhen. Und morgen sieht die Welt dann ganz anders aus, oder nicht?, dachte Annika sarkastisch, während sie zögerlich die ordentlich gelegte Bettdecke zurückschlug und dann darunter schlüpfte. 
Eine andere Wahl blieb ihr ja nicht. 
Das Bett fühlte sich kalt und fremd an und Annika hatte sich selten so unwohl gefühlt. 
Aber … einen besseren Ort zum Schlafen habe ich ja ohnehin nicht, dachte Annika unglücklich und dachte an ihr neues „zu Hause“, das sie so sehr verabscheute. 
Doch obwohl Annikas Gedanken nach wie vor schrecklich aufgewühlt waren, konnte sie gleich darauf kaum noch ihre Augen offenhalten. Ihr Körper verlangte vehement nach Schlaf. Daran konnten jetzt auch ein halbes Dutzend blutgieriger Vampire, die ihr eigentlich nicht aus dem Kopf gingen, nichts mehr ändern, und nicht einmal der Gedanke an den Ältesten von ihnen hielt sie noch davon ab, einzuschlafen. 

* ~ * ~ * ~ *

Heeey alle miteinander ^.^
Es ist leider nicht soooo unfassbar viel passiert ... okay, eigentlich gar nichts. Nichts Spannendes zumindest. Tut mir leid >.<
Und ich denke auch, dass euch das hier, nachdem ihr Annikas Schlagfertigkeit und Toughheit so gutgeheißen habt, auch nicht so sonderlich gefallen hat. 
Aaaaber ... Annika ist weniger mutig und mehr zickig. Und mental ziemlich instabil. Tja ... Hm ^-^ *schulterzuck*

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