Das Nachspiel

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Mittlerweile war Annika zu dem Schluss gekommen, dass sie sich wohl niemals an diese beschämenden Situationen, in die sie mittlerweile beinahe ununterbrochen gedrängt wurde, würde gewöhnen können, aber sie waren trotzdem um Längen besser, als zwei bis drei Vampire an ihrer Halsschlagader hängen zu haben. 
Nachdem Azusa sie in der Eingangshalle des Mukami-Anwesens endlich wieder heruntergelassen hatte, hatten sie alle sich in das große Wohnzimmer begeben, wo sie sich nun auf die vielen Sofas und Sessel verteilten. Auch Annika ließ sich zögernd in einen der blauen Sessel sinken und starrte dann einfach nur auf die Spitzen ihrer Schuhe, während sie unbehaglich auf ihrer Unterlippe herumkaute. 
„Wie geht es dir jetzt?“, wollte Noriko wissen und setzte sich auf die Couch, beugte sich nach vorne und sah Annika aufmerksam an. „Ist dir noch schwindlig oder so?“
„Oder übel?“, schlug Hime vor, setzte sich neben Azusa auf das andere Sofa. 
Annika zögerte einen Augenblick, horchte kurz in sich selbst hinein, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, nichts davon“, meinte sie leise. „Aber … es ist trotzdem …“ 
„Schön ist es nicht“, nahm Noriko ihren zögerlich formulierten Gedankengang auf und schüttelte unterstreichend den Kopf. „Wir verstehen das schon.“ Sie lächelte, als Kou, der neben ihr saß, sie zu sich zog und ihr einen Kuss in den Nacken hauchte. 
„Du scheinst ein beeindruckendes Blutvolumen zu besitzen“, mischte sich da mit einem Mal Ruki ein und Annika erschrak schier zu Tode, als sie bemerkte, dass er direkt neben ihr stand, ohne dass sie sein Näherkommen zuvor bemerkt hätte. 
Als sie ihn ansah, schenkte er ihr wieder einen seiner unleserlich-ernsten Blicke und Annika fragte sich, ob er überhaupt ein anderes Gesicht aufsetzen konnte, aber dann bemerkte sie das amüsierte Funkeln in seinen monochromen Seelenspiegeln. Klar, muss witzig sein, schwache Menschen zu erschrecken, dachte Annika müde. 
Ruki schien keine Antwort ihrerseits erwartet zu haben. 
Was hätte sie auch sagen sollen? „Danke“ vielleicht? Wohl kaum. 
„Nichtsdestotrotz wirst du viel trinken müssen, um den Blutverlust gänzlich auszugleichen“, sprach er nun weiter und da bemerkte Annika das Wasserglas, das er in der rechten Hand hielt. Ein aufforderndes Nicken folgte seinen Worten. 
Wieder zögerte Annika, dann streckte sie beinahe vorsichtig die Hand aus und nahm das Wasser entgegen, kurz noch suchte sie seinen Blick, nickte ihm einen knappen Dank zu, dann wandte sie sich schnell ab und sah in eine andere Richtung. 
Seine Präsenz war unsagbar einschüchternd, das bemerkte Annika jedes Mal aufs Neue. 
Beinahe hastig nahm Annika einen Schluck von dem Wasser, ihre Kehle war tatsächlich ausgedörrt, ihr Körper sehnte sich nach den entzogenen Nährstoffen und der Flüssigkeit. 
„Du musst auch ziemlich müde sein“, meinte Harumi nun und setzte sich auf Yumas Schoß, woraufhin der großgewachsene Vampir seine Arme um ihre Taille schlang und sie zu sich zog. 
„Ja, schon“, meinte Annika leise. Wieder sah sie nur auf den Boden, sie traute sich nicht, den Blick von irgendwem zu kreuzen, sie fühlte sich von allen Seiten beobachtet wie ein Ausstellungsstück und das behagte ihr überhaupt nicht. 
„Darf ich dir eine Frage stellen?“, wollte Hime da wissen, während sie sich an Azusa schmiegte, woraufhin er ihr über die Haare strich. 
Annika sah überrascht auf. „Ja, klar“, meinte sie dann achselzuckend. 
„Wenn du aus Dänemark kommst, warum sprichst du dann so gut Japanisch?“
„Du kommst aus Dänemark?“, wiederholte Noriko überrascht. 
„Cool“, meinte Harumi mit einem Lächeln und legte den Kopf in den Nacken, um Yuma ein wenig umständlich einen Kuss zu geben. „Wo liegt das?“, wollte sie dann wissen. 
„Ziemlich weit im Norden“, antwortete Yuma ihr. 
„Nördlich von Deutschland“, präzisierte Hime. 
„Und wo liegt das?“, fragte Harumi ein wenig gequält weiter. 
„Ist das dein Ernst?“, wollte Noriko nun belustigt wissen. 
Harumi grinste. „Tut mir leid, ich bin echt schlecht in Geographie.“ 
„Nordeuropa“, murmelte Annika und nahm noch einen Schluck Wasser. 
„Dann kommst du ja tatsächlich von der anderen Seite der Welt, Annika-chan“, stellte Kou fest und klang sogar fast ein wenig beeindruckt.
„Und? Wieso sprichst du fließend Japanisch? Stammt ein Elternteil von dir aus Japan?“, wollte Harumi nun, neugierig geworden, wissen. 
Annika schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie leise und starrte wieder zu Boden. „Mein Vater stammt aus Deutschland und meine Mutter ist gebürtige Dänin“, erklärte sie. „Mein Vater hat hier einen Job angeboten bekommen. Darum sind wir umgezogen.“ 
„Das tut mir leid. Das ist sicherlich nicht schön“, meinte Hime. 
„Nein“, bestätigte Annika kopfschüttelnd. 
„Dein Vater zieht wirklich nur wegen eines Jobs mit seiner ganzen Familie durch die halbe Weltgeschichte?“, hakte Harumi nun ein wenig stutzig nach. 
„Nur mit mir“, murmelte Annika und ihre Finger krampften sich um das Wasserglas, als sie daran dachte. Wut kam wieder in ihr auf und ihr Blick verfinsterte sich. 
„Und … deine Mutter?“, wollte Noriko zögerlich wissen. 
Annika seufzte. „Das ist eine lange Geschichte.“
„Erzähl’ mal“, meinte Harumi. „Wir sind echt neugierig.“ 
„Nur, wenn es dich nicht stört“, setzte Noriko hinzu, woraufhin auch Harumi schnell nickte. 
Annika hob nur kurz die Schultern. „Es ist eben, wie es ist. Die Geschichte ist lang, aber nicht unbedingt spannend. Ich glaube, um alles zu verstehen, muss ich fast ganz vorne anfangen.“ Sie biss sich kurz auf die Unterlippe, dann sagte sie sich, dass die anderen ja schließlich gefragt hatten. „Also … es fängt eigentlich schon damit an, dass meine Eltern überhaupt kein Kind wollten. Meine Mutter wollte mich abtreiben, aber mein Vater war dagegen. Sie behielten mich und meine Mutter überließ es eigentlich voll und ganz meinem Vater, mich aufzuziehen, obwohl er, anders als sie, arbeiten ging. Aber er kam damit klar.“ Nachdenklich schwenkte Annika das Wasser im Glas hin und her. „Sie haben sogar meinetwegen geheiratet. Aber meine Mutter wollte nie viel mit mir zu tun haben, obwohl es besser wurde, als ich kein Kind mehr war, mit vierzehn, fünfzehn und sechszehn Jahren. Aber sie war trotzdem eine miserable Mutter. Sie war sprunghaft.“ Annika biss sich kurz auf die Unterlippe. „Ich habe schon früh erfahren, dass sie sich mit anderen Männern trifft und mein Vater wusste es auch. Sie haben sich nicht mehr geliebt. Aber sie blieben zusammen. Meinetwegen. Als ich dann sechszehn wurde, hat sie sich scheiden lassen.“ Nun krampften Annikas Hände sich wieder um das Glas und ihr Blick verfinsterte sich erneut. „Sie meinte, sie wolle ihr Leben genießen, solange sie noch in den Dreißigern ist“, erklärte sie und konnte sich einen sarkastisch-giftigen Unterton nicht verkneifen. „Na ja, und dann hat sie ihre Sachen gepackt und uns allein gelassen.“ Erst als Annika diesen Satz beendete, bemerkte sie, dass sie sich eigentlich nur ihren Frust von der Seele geredet hatte, anstatt wirklich etwas zum Thema beizutragen. „Jedenfalls“, begann sie darum schnell, „hat mein Vater im vergangenen Jahr eine Japanerin kennengelernt, die in derselben Firma arbeitet wie er und in Dänemark auf Geschäftsreise war. Sie mussten zusammenarbeiten und er hat sich während dieser paar Wochen in sie verliebt, dann kam noch diese dumme Sache mit der angebotenen Versetzung dazu und dann war es eigentlich ziemlich schnell beschlossen. Und ich häng’ da eben mit drin“, schloss Annika und konnte den Groll in ihrer Stimme nicht unterdrücken. 
„Das tut mir leid“, tat Hime noch einmal kund. 
„Das ist zugleich fies und romantisch“, meinte Harumi nachdenklich. 
„Und wie geht es dir damit so?“, wollte Noriko wissen. 
Annika schnaubte und rang einen Moment mit sich, dann doch dann schüttelte sie den Kopf. „Ich hasse ihn. Ich verstehe nicht, wie mein Vater mir das antun konnte …“, antwortete sie ehrlich und drehte das Wasserglas in ihren Händen. 
Es folgte betretenes Schweigen seitens der Mädchen. 
„Das erklärt aber noch immer nicht, warum du unsere Sprache so gut sprichst“, merkte Kou jedoch nur unbeeindruckt an. Behutsam nahm er Norikos Hand in seine und ritzte mit seinen Zähnen ihren Handrücken auf, und Noriko nahm den Schmerz mit einem leisen Zischen hin. 
Annika versuchte, dieser in ihren Augen merkwürdigen Beziehung keine allzu große Beachtung zu schenken und sich stattdessen auf Kous Frage zu konzentrieren. „Ach so, ja“, murmelte sie ein wenig beschämt. „Ich … ich bin hochbegabt und habe ein eidetisches Gedächtnis. Als mein Vater mir sagte, wir würden drei Wochen später nach Japan fliegen, habe ich mich kurz mit der Grammatik vertraut gemacht und mir die wichtigsten Phrasen angeguckt. Den Rest habe ich noch während des Fluges gelernt.“ 
Sie zuckte zusammen, als Kou plötzlich auflachte. „Wahnsinn!“, rief er aus. 
Annika schmunzelte ein wenig, die Wertschätzung tat ihr gut. 
„Ja, das ist wirklich beeindruckend“, nickte auch Noriko anerkennend. 
„Sprichst du auch noch andere Sprachen?“, wollte Harumi wissen. 
„Deutsch, dank meinem Vater“, antwortete Annika lächelnd. „Dann natürlich noch Englisch und Französisch aus der Schule. Im letzten Schuljahr zu Hause hatte ich auch noch Spanisch.“ 
Sie fuhr erneut erschrocken zusammen, als Ruki, der hinter ihr stand, plötzlich das Buch, das er in der Hand gehalten hatte, zuschlug, und verwundert wandte sie sich um, doch er fing nur kurz ihren Blick auf, ehe er sich wieder umwandte und nach dem nächsten Buch im Regal griff. Irritiert drehte Annika sich wieder nach vorne. 
„Hey Kleine“, sagte Yuma da und legte sein Kinn auf Harumis Schulter ab. „Wie spät ist es?“
Harumi sah kurz auf ihre Armbanduhr. „Schon wieder Viertel vor zwölf“, antwortete sie dann. 
„Wollen wir dann schlafen gehen?“, fragte Yuma und küsste Harumis Nacken. 
Sie kicherte und wandte sich kurz um, um Yuma noch einmal einen Kuss auf den Mund zu geben. „Okay“, sagte sie, befreite sich sanft aus Yumas Griff und stand dann auf, sah kurz in die Runde. „Dann verabschieden wir uns jetzt.“
„Unser Stichwort, Neko-chan“, meinte Kou fröhlich und zog Noriko mit sich in die Höhe, und ehe Noriko sich versah, hatte er sie plötzlich auf die Arme genommen, woraufhin sie ein erschrockenes Quieken ausstieß, doch dann lachte sie vergnügt. 
„Hime … sollen wir auch … ins Bett gehen?“, fragte Azusa seine Freundin. 
„Moment noch“, sagte Hime und stand auf. „Ruki, Annika kann doch sicherlich wieder hier übernachten, oder? Um diese Zeit kommt sie sicherlich nicht mehr nach Hause.“ 
Annika schluckte und wusste nicht, ob sie Hime dankbar sein sollte oder nicht. Sicherlich, Hime setzte sich für sie ein, aber auf der anderen Seite wollte Annika nicht noch eine Nacht hier verbringen … Mochten sich die Mukamis bisher – im Vergleich zu gewissen anderen Vampiren – noch so sehr benommen haben. Aber was blieb ihr schon für eine Wahl …
Langsam wandte Ruki sich um. „Du weißt, wo das Gästezimmer ist“, sagte er dann bloß. 
Annika schluckte erneut und nickte dann knapp. „D-danke“, stotterte sie verlegen. Sie konnte Ruki tatsächlich nicht mehr ins Gesicht sehen, nicht nach ihrer „Auseinandersetzung“. Und ebendiese Tatsache ließ sie einfach nicht los, es beunruhigte sie, wie viel Einfluss der Älteste der Mukami-Brüder auf sie nahm, ohne wirklich etwas zu tun. 
Eilig folgte sie Hime und den anderen Mädchen aus dem Zimmer. 
„Ich bringe dich noch nach oben“, meinte Hime im Flur schließlich. 
„Danke“, sagte Annika ehrlich. Einen Augenblick zögerte sie. „Meinst du … ich kann hier auch baden oder duschen?“, fragte sie dann hoffnungsvoll.
Hime lächelte. „Klar doch. Dafür hast du doch dein eigenes Badezimmer“, meinte sie freundlich. „Aber dann brauchst du sicher auch frische Kleidung, oder?“
„Ähm …“, machte Annika noch, aber Hime war schon zu Noriko gelaufen, die sich daraufhin von Kou löste und ein paar Worte mit der Schwarzhaarigen wechselte. 
Als Hime zu Annika zurückkehrte, nickte sie ihr zu. „Noriko dürfte etwa deine Größe haben und sie hat hier auch ihre Sachen eingelagert, also wird sie dir etwas zum Anziehen leihen.“ 
„Das … wow“, erwiderte Annika vollkommen überrumpelt. 
Hime lachte. „Wie gesagt, wir alle haben schon mal in blutstarrenden Kleidern gesteckt. Wir wissen, wie das ist und wir sind froh, dir all das ein bisschen einfacher machen zu können.“ Sie wandte sich kurz zu Azusa um und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Geh’ schon mal vor, ich komme gleich nach.“ Dann sah sie wieder Annika an. „Und wir beide gehen jetzt auf dein Zimmer. Komm’.“ Sie bedeutete Annika, die Treppe zu nehmen. 
Im Gästezimmer angekommen mussten sie nicht lange warten, bis Noriko ihnen ein Paar Socken, eine schlichte Jeans und ein frisches T-Shirt brachte. 
„Danke. Ehrlich“, sagte Annika schließlich, noch immer nahezu überwältigt. 
„Gern geschehen“, meinte Noriko freundlich. „Erhol’ dich gut. Gute Nacht.“ 
„Gute Nacht“, schloss Hime sich ihrer Freundin an und ging zur Tür. 
„Ja, gute Nacht“, erwiderte Annika und sah den beiden Mädchen hinterher, bis die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel. Dann wartete sie einen Augenblick und folgte ihnen, drehte den Schlüssel im Schloss herum. Sicherheitshalber.
Anschließend öffnete sie die Tür zum Badezimmer. 
Der Raum war schlicht weiß gefliest, am Boden und an den Wänden, ein fein geädertes Muster ließ sich im Stein erkennen. An Sauberkeit mangelte es nicht, das musste Annika den Vampiren zugestehen und angesichts der Größe ihres Anwesens grenzte es sogar an eine beachtliche Leistung, selbst dieses vergleichsweise kleine Zimmer sauber zu halten. 
Annika war unheimlich empfindlich, was winzigste Unreinheiten anbetraf, vor allem eben im Badezimmer. Ein Grund, aus dem sie seit ihrem Umzug vor etwa einer Woche bisher nur ein einziges Mal geduscht hatte, vor drei Tagen war das gewesen, und sie hatte es nur getan, weil sie es nicht mehr ausgehalten hatte. Aber zur selben Zeit hatte sie sich vor dem Badezimmer in ihrer neuen Wohnung geekelt, selbst nachdem sie es gründlich geputzt hatte. Sie fühlte sich in der neuen Wohnung einfach nicht wohl … und sie sehnte sich nach ihrem zu Hause. 
Kurz blieb sie noch unschlüssig im Zimmer stehen, dann ließ sie sich trotz aller Bedenken ein Bad ein, kurz suchte sie sich in den kleinen Schränken Lappen, Handtücher und Shampoo zusammen, legte dann endlich ihre vollkommen blutbefleckte – und eigentlich nagelneue – Schuluniform ab, und ließ sich ins heiße Wasser gleiten. 
Während sie begann, sich mit einem Lappen das getrocknete Blut von Hals, Schulter, Dekolleté und Brust zu schrubben, ging ihr einiges durch den Kopf. 
Sie erschauderte, als sie an Kanatos krankes Lächeln dachte und seine Drohung, sie zu töten, sollte sie sich wehren. Und wie ruhig er diese grausamen Worte hervorgebracht hatte, mit einer Stimme so angenehm wie Samt. Wie verrückt es doch war, dass ihr erster Eindruck von dem Jungen sie vollkommen in die Irre geführt hatte. 
Das passierte ihr selten. 
Verzweifelt schloss sie die Augen, als sie an Ruki denken musste. 
Warum nur hatte ausgerechnet sie auf diese übermenschlichen Kreaturen treffen müssen?
Annika biss die Zähne zusammen, als sie mit dem rauen Stoff über die frischen und älteren Bisswunden fuhr, es schmerzte unangenehm und brannte wie verrückt. 
Sie dachte auch noch an diesen neuen Vampir, den sie an diesem Tag „kennengelernt“ hatte, diesen Blonden mit den ultramarinblauen Augen, Shu. Er hatte nicht ein Wort gesagt, erinnerte Annika sich, er hatte sich einfach an ihrem Blut bedient und alles um ihn herum hatte ihn nicht gekümmert, nicht einmal sein kleiner Bruder. 
Nachdenklich fuhr Annika nun mit den Fingerspitzen über die deutlich hervortretenden Wundränder an ihrem Hals. Vampire konnten ihr Blut auch ohne eine offene Wunde wittern, das wusste sie bereits, sonst hätten Kanato und Ayato sie nicht von Anfang an ins Auge gefasst, wenn sie doch – laut Harumi – für gewöhnlich nicht wahllos irgendwelche Leute bissen. Sie musste aufpassen, dass die Wunden sich während ihres Aufenthalts im Mukami-Anwesen nicht noch einmal öffneten … die Folgen wären möglicherweise fatal gewesen. Vollkommen unwiderstehlich wurde es nämlich offenbar, sobald ihr Blut austrat. Nur so konnte sie sich auch Azusas und Kous Verhalten erklären. Und wenn sie es so auslegte … 
Eigentlich kann ich ihnen das nicht zum Vorwurf machen, dachte Annika und wunderte sich beinahe über ihre eigenen versöhnlichen Gedankengänge. Aber auf der anderen Seite … Vampire, dachte Annika beklommen. Es kann doch nicht sein, dass solche Wesen wirklich existieren …
Sie seufzte und schloss die Augen, ehe sie ihren Kopf unter Wasser tauchte und einen Augenblick das warme Wasser genoss, dann richtete sie sich wieder auf und strich ihre nassen Haare nach hinten. Dann zögerte sie und zog den Stöpsel, um das mit ihrem Blut verschmutzte Wasser abzulassen. Anschließend ließ sie neues Wasser ein. Ihr war bewusst, dass sie verschwenderisch handelte, doch sie wollte nicht in ihrem eigenen Dreck baden. 
Nachdem sie sich die Haare gewaschen hatte, blieb sie noch eine Weile in der Wanne sitzen und dachte weiterhin nach. Vor allem kamen ihr wieder all die Dinge in den Sinn, die sie den Mädchen zuvor noch erzählt hatte. Von dem Umzug, von ihrer Mutter, ihrem Vater. 
Und je länger sie darüber nachdachte, desto heißer kochte die Wut wieder in ihr hoch. Der Gedanke daran, dass sie alles hatte zurücklassen müssen, ihre Freunde, ihre Schule, ihre Heimat. Alles, das ihr jemals etwas bedeutet hatte. 
Sie schrak auf, als plötzlich die Türklinke heruntergedrückt wurde, und für den Bruchteil einer Sekunde verfluchte sie sich noch dafür, die Tür nicht abgeschlossen zu haben. Doch im nächsten Moment fiel ihr ein, dass sie allerdings die Tür zum Gästezimmer selbst verriegelt hatte. Wie also konnte es nun sein, dass … 
Sie kam nicht mehr dazu, den Gedanken zu Ende zu bringen, denn die Tür wurde geöffnet und im nächsten Augenblick stand Ruki im Badezimmer. Merkwürdigerweise hätte Annika mit jedem gerechnet, selbst mit einem der Mädchen, aber nicht mit ihm. 
Aus irgendeinem Grund flammte nur kurz Erschrecken in Annika auf, dann zog sie einfach die Knie an ihren Körper, schlang den rechten Arm um ihre Beine, während sie den linken auf den Wannenrand legte, nur um im Fall der Fälle schnell aufstehen zu können. Finster funkelte sie Ruki an. „Was willst du denn hier?“, wollte sie, angesichts der Situation, beinahe zu ruhig wissen. „Man kommt nicht einfach so ins Badezimmer.“ Die Wut, die zuvor noch in ihr gewesen war, half ihr nun, die Peinlichkeit der Situation zu ertragen. 
Was hätte sie auch sonst tun sollen? Kreischen und zetern? Diese Blöße konnte und wollte Annika sich nicht auch noch geben. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass es den Ältesten der Mukami-Brüder gar nicht scheren würde, wenn sie einen Aufstand machte.
Ruki antwortete ihr nicht, er kam nur näher. Sein Blick verriet natürlich nicht im Geringsten, was er vorhatte. Als er schließlich neben ihr stand, schloss sich plötzlich seine Hand um Annikas Arm, noch bevor Annika reagieren konnte. 
Sie unterdrückte ein Zusammenzucken und sah Ruki möglichst unerschrocken ins Gesicht. Zuvor, im Wohnzimmer, hatte sie sich ihm gegenüber vielleicht noch demütig verhalten, aber jetzt war er wohl oder übel in ihre Privatsphäre eingedrungen und das würde sie sich nicht bieten lassen. Sie wollte sich in keiner Weise unterwerfen. 
„Was?“, wollte sie nur scharf wissen und versuchte, den Griff um ihr Handgelenk zu ertragen. Er war fest, schmerzhaft, es fühlte sich fast an, als würde er gleich ihre Knochen zermalmen. Erfolglos versuchte sie, sich ihm zu entziehen, doch sein Griff lockerte sich kein Stück, sie schaffte es nicht einmal, seine Hand überhaupt vom Fleck zu bewegen. Es war, als hätte sich ein mechanischer Greifer um ihr Handgelenk geschlossen. 
„Ist dir bewusst, dass du es sehr an Höflichkeit mangeln lässt?“, fragte Ruki ruhig zurück, der kühle Blick seiner graublauen Augen war absolut unbewegt und bohrte sich in den von Annika, während seine Finger sich scheinbar noch weiter um ihren Unterarm schlossen. 
„Und das von dem, der einfach so ins Badezimmer geplatzt ist“, erwiderte sie nur patzig und versuchte, sich mit keiner Regung anmerken zu lassen, wie sehr sie sich in Wahrheit schämte, wie sehr ihr Herz pochte vor Furcht, wie sehr er ihr gerade wehtat. 
Zumindest sah er ihr nur in die Augen, in diesem Fall war das vergleichsweise angenehm. 
„Ich spreche nicht von heute“, versetzte Ruki bloß in ebenso scharfem Tonfall. „Allerdings ist dein Verhalten angesichts des letzten Vorfalls auch jetzt unangemessen vorlaut.“ 
„Und selbst wenn“, entgegnete Annika verärgert, gab allerdings den Versuch, ihre Hand aus seinem Griff zu befreien, auf. „Glaub’ bloß nicht, dass ich mich noch einmal bei dir entschuldigen werde, du Kontrollfreak. Ich hab’ nichts mehr zu verlieren“, behauptete sie.  
Es überraschte sie, als mit einem Mal beinahe so etwas wie ein Schmunzeln seine Lippen kräuselte, die erste nennenswerte Regung, die seine Miene zierte, seitdem Annika ihn kennengelernt hatte. „Ist das so?“, fragte er nun richtiggehend amüsiert und ließ mit einem Mal ihre Hand los, woraufhin sie dem Drang, sich das schmerzende Handgelenk zu reiben, widerstand und ihn nur weiterhin böse ansah. „Ist es wegen deines Umzugs?“, wollte Ruki nun wissen, sein monotoner Tonfall verriet, wenn überhaupt, nur mäßiges Interesse. 
Nichtsdestotrotz war Annika ein wenig überrascht, dass er nun plötzlich gewillt schien, vielleicht so etwas wie eine … Konversation … mit ihr zu führen. Doch dann schnaubte sie bloß abfällig. „Der Umzug, die neue Schule, mehr als ein halbes Dutzend Vampire, die mir ans Leder wollen … Ich hab’ die Schnauze voll davon“, grollte Annika und ließ Ruki, der nun um die Badewanne herumschlenderte, keinen Moment lang aus den Augen. 
„Ich verstehe“, sagte Ruki und ging neben ihr in die Hocke. 
Annika musterte ihn misstrauisch. „Und? Was ist jetzt?“
„Ich frage mich gerade, ob du auch tatsächlich die Konsequenzen für dein Verhalten tragen kannst“, meinte Ruki mit ruhiger Stimme. 
Annikas Blick war nach wie vor finster und ihre Stirn in tiefe Falten gelegt. Sie hatte versucht, dieser Konfrontation gefasst zu begegnen, doch sie wusste, dass Ruki wusste, wie sehr es in ihrem Inneren brodelte vor Zorn. Aber vor allem fühlte sie hinter dieser Wut auch Scham und Furcht, eine starke Resignation, das Gefühl, absolut machtlos zu sein, sich kein bisschen wehren zu können. Doch das wollte sie keinesfalls zugeben. 
„Ich bin schon von vier Vampiren gebissen worden, ich habe keine Angst mehr. Auch nicht vor dir“, erklärte sie schließlich knapp und versuchte weiterhin, seinen eindringlichen Blick unerschrocken zu erwidern. Diese falsche Wut machte es möglich. 
Wieder erntete sie dieses verhaltene Lächeln, aber dieses Mal wirkte es … unheimlicher. „Wir werden sehen, wie du darüber denkst, nachdem ich dir eine Lektion erteilt habe“, erwiderte Ruki dann und ehe Annika nachfragen konnte, hatte er plötzlich eine Hand auf ihren Kopf gelegt und sie mit einem kräftigen Ruck nach unten gedrückt. 
Annika wollte reflexartig nach Luft schnappen, doch alles, was sie in diesem Augenblick noch einatmen konnte, war Wasser. Noch ehe sie die Situation hatte begreifen können, war das Wasser über ihrem Kopf zusammengeschlagen. Und nur Wasser füllte ihre Lungen. 
In schierer Todesangst griff sie nach dem Wannenrand und wollte sich wieder nach oben ziehen, doch Rukis Kraft war übermenschlich, er hielt sie ohne jede Anstrengung unter Wasser, nur Millimeter vom lebenswichtigen Sauerstoff entfernt. 
Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, die in Wahrheit nicht einmal zehn Sekunden angedauert hatte, zog er seine Hand zurück und reflexartig richtete Annika sich wieder auf. Als sie nun jedoch nach Luft ringen wollte, gelangte allerdings kein einziger Atemzug in ihre Lungen, denn sie waren voll von Wasser, das sie erst nach einigen weiteren qualvollen Sekunden durch Mund und Nase erbrach, dann endlich bekam sie wieder Luft, und es schien ihr das schönste Gefühl zu sein, das sie je hatte erleben dürfen. 
Sie begriff kaum, was eben passiert war, und bevor sie sonst irgendetwas tun konnte, hatte  Ruki erneut nach ihrem Kopf gegriffen und er schob sie ein zweites Mal erbarmungslos unter die Wasseroberfläche. Und auch jetzt konnte sie sich gegen ihn nicht wehren, ihre Hände tasteten nur völlig fruchtlos über den Wannenrand, der ihr in dieser Situation auch keine Rettung bot, und als sie nach seiner Hand griff, war es, als versuche sie, massiven Stahl zu verformen – es half alles nichts. 
Allerdings hatte sie dieses Mal das Glück, dass sie kein Wasser einatmete. Stattdessen rang sie nun mit dem unbezwingbaren Drang, doch wieder Luft zu holen, und ihre Lungen schmerzten und schrien nach Sauerstoff. Aber egal, wie sehr sie zappelte und sich zu wehren versuchte, sie konnte erst wieder auftauchen, als Ruki ihren Kopf freigab. Lautstark sog sie die Luft ein, hustete erneut, noch immer hatte sie Wasser in der Lunge, und die Mixtur aus Wasser und Shampoo brannte höllisch in ihren Atemwegen. 
Sie konnte auch jetzt noch keinen klaren Gedanken fassen, vorher schon tauchte Ruki sie ein drittes Mal unter, und auch jetzt glich es einem Todeskampf. 
Als sie erneut auftauchte und er nun gänzlich von ihr abließ, übernahmen wohl Annikas primitivsten Instinkte, nackter Überlebenswillen, ihr Handeln und mit letzter Kraft hechtete sie aus der Badewanne, ehe sie keuchend auf die Knie fiel und vom rasselnden Husten geschüttelt wurde, bis sie alles Wasser ausgespien hatte. 
Als sie schließlich nach einer Weile den Blick wieder hob, begegnete er dem von Ruki und sie versuchte, sich von ihm abzuwenden, doch zugleich konnte sie ihm auch nicht den Rücken zukehren. Irgendetwas sagte ihr zwar, dass er nicht vorhatte, sie noch weiter zu quälen, aber natürlich kannte ihre Furcht trotzdem keine Grenzen. 
„Auch meine Eltern haben mich verraten“, sagte er da plötzlich mit unverändert ruhiger Stimme. „Aber ich habe nicht aufgegeben. Das ist der Grund, warum ich über dir stehe und auf dich herabblicke, während du winselst und ohne Würde am Boden kriechst.“
Annika hatte den Blick zwischenzeitlich wieder sinken lassen, ihr Sichtfeld war undeutlich. Ihr Kreislauf protestierte gegen die heiße feuchte Luft und den Sauerstoffmangel, dem sie zusätzlich ausgesetzt gewesen war. Als sie den Kopf wieder hob, sah sie gerade noch, wie Ruki sich abwandte und das Badezimmer verließ. 
Annika war zu entkräftet, um irgendwelche Fragen zu stellen. 
Stattdessen schleppte sie sich zu den Handtuchständern, wo sie einen der blauen Stoffe zu sich zog und sich darin einwickelte. Sie zitterte. 
Es dauerte lange, bis sie wieder zu halbwegs sinnvollem Denken fähig war, sie versuchte einen Gedanken zu fassen, der jenseits von Panik und verzweifeltem Überlebenskampf lag. Es verging auch noch einige Zeit, bis sie nicht mehr nach jedem neuen Atemzug husten musste und nicht mehr das Gefühl hatte, gleich an der Luft zu ertrinken. 
Am Ende fühlte sie sich vollkommen ausgelaugt und erschöpft. 
Als sie sich dann wieder aufrichtete, zog sie den Stöpsel aus der Badewanne und nachdem sie sich selbst abgetrocknet hatte, wischte sie auch noch das Wasser vom Boden auf. Zu groß war ihre Furcht, dass Ruki sie noch einmal bestrafen könnte. 
Als sie dann schließlich ins Bett fiel, war für schwarzmalerische Gedanken gar kein Platz mehr. Zu groß war die Erschöpfung und die Erleichterung, diesen Tag überstanden zu haben. 
Ja, nachdem sie wirklich ernsthaft um ihr Leben gebangt hatte, und sei es nur für wenige Augenblicke, war sie wirklich unsagbar froh, überhaupt noch am Leben zu sein. 

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Na, wenn das kein schönes, Kapitel war :D
Vielen Dank für's Lesen :)

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