kapitel 1

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16 Monate später ...

Mein Zimmer glich einem Schlachtfeld. Überall lagen meine Klamotten verstreut, sodass mein Bett und der Boden praktisch nicht zu sehen waren. Und mitten in dem ganzen Chaos stand ich, den Kopf schief gelegt und mit in den Hüften gestemmten Händen.

Was sollte ich bloß anziehen? Diese Frage brannte schon seit über einer Woche in mir, seit ich entschlossen hatte, mein Leben umzukrempeln und aus meinem Schattendasein endlich auszubrechen.

Heute war der erste Tag meines letzten Highschool-Jahrs. Der erste Tag an der Schule, ohne meine Schwestern. Jose und Jacky waren jetzt beide im College, womit ich als einzige Keller übrig blieb. Wenn ich heute die Menschen nicht dazu brachte, mich zu bemerken, wann dann? 

Es wurde endlich Zeit, dass ich dafür sorgte, dass sie mich wahr nahmen!

Und das fing schon mit der Wahl meines Outfits an. Leider konnte ich mich nicht entscheiden, welche Kombi für mein Vorhaben am vorteilhaftesten war. 

Fast hätte ich vor Frust geschrien.

"Annabelle!", hörte ich Mum vor meiner Türe rufen. "Das Frühstück ist fast fertig."

"Ich komme gleich!", brüllte ich zurück und wandte mich wieder meinem Dilemma zu. Ich nahm meine Lieblingsjeans zur Hand und dazu ein hübsches, pfirsichfarbenes Top mit Pailletten am Ausschnitt. Es war schlicht, aber süß, fand ich. Oder doch zu schlicht, fragte ich mich zweifelnd. Ich wollte zwar jetzt nicht irgendwas allzu Krasses anziehen, aber es sollte jetzt auch nicht so null-acht-fünfzig sein. "Verdammt!" Ich schmiss die Sachen wieder hin und vergrub stöhnend das Gesicht in den Händen. Es konnte doch nicht wirklich so schwer sein, ein paar Kleidungsstücke auszusuchen!

Anscheinend ja doch, meldete sich meine innere Stimme zu Wort. Ich brachte sie zum Verstummen. 

Als Mum ein zweites Mal nach mir rief, war ich es leid, mich mit dem Problem auseinander zu setzen, schnappte mir eine schwarze Jeans, ein Top mit Nirvana-Logo drauf, das ich bisher nur ein Mal angezogen hatte, weil Mum es furchtbar fand - wie meinen Geschmack generell - und zog die Sachen an. Dann fragte ich mich kurz, wie ich meine Haare frisieren sollte. Ich konnte nicht flechten oder schöne, stylische Frisuren kreieren, so wie Jose, also waren die Alternativen nicht sehr groß. Ich entschied mich am Ende für einen schlichten Pferdeschwanz, da es draußen super warm war und ich immer schnell ins Schwitzen kam, wenn ich meine langen Wellen offen trug.

Als ich in den Spiegel sah, musterte ich mich kritisch von Kopf bis Fuß - ich mochte, was ich sah. Schlicht, ja, aber nicht so ... charakterlos, fand ich. Ich fühlte mich, wie ich selbst. Nicht wie die Puppe meiner Eltern, die mich am liebsten in Klamotten sahen, die konventionell und langweilig und ihrer Meinung nach perfekt für mich waren.

Nicht mehr, dachte ich. Damit ist Schluss!

Kaum hatte ich allerdings die Küche betreten, fühlte ich, wie mein Mut sank. Mums Blick glich einem Laser, der jeden Zentimeter von mir scannte und als inakzeptabel befand. "Was hast du da an, Annabelle?" Ihre Stimme war nicht minder anklagend, als ihr Blick. 

Ich zwang mich, die Schulter zu straffen und ihr in die Augen zu sehen. "Das sind ganz normale Sachen, Mum. Nichts Anstößiges oder so."

"Zieh das aus", sagte sie und wandte sich wieder ab, um Kaffee in ihre Tasse zu gießen. Für sie war das Thema damit beendet, ich würde ihr gehorchen und meine übliche Kluft anziehen, bestehend aus pastellfarbenen Oberteilen und schlichten Hosen. 

Bleib stark, sagte ich mir. Heute fängt dein neues Leben an. Lass dich nicht unterkriegen. "Nein!" Oh Gott, meine Knie zitterten, so sehr fürchtete ich mich vor der Reaktion meiner Mutter.

Ich hatte ihr noch nie Wiederworte gegeben. Nie.

Ganz langsam, wie in Zeitlupe, drehte sie sich zu mir um. "Was hast du gerade gesagt?"

Ich schluckte. "Ich habe gesagt: Nein. Ich lasse die Sachen an." Da! Ich hatte verbal mit dem Fuß aufgestampft. Mental klopfte ich mir auf die Schultern, aber als das Gesicht meiner Mutter einen versteinerten Ausdruck annahm, hatte ich Angst, meinen gefundenen Mut wieder zu verlieren. 

"Annabelle Dorothea Keller! Du ziehst dich sofort um!"

"Nein", blieb ich standhaft und stürmte aus der Küche. Das Frühstück würde ich heute auslassen, beschloss ich spontan. Ich warf meinen Rucksack auf den Beifahrersitz meines neuen Audi - nun ja, eigentlich war er nicht neu. Es war der Wagen meiner Schwester, aber Jacky hatte für das College einen neuen kaufen wollen, und mir ihren A3 überlassen. Der weiße Lack wies einige Kratzer und Beulen auf und war auch nicht gerade als sauber zu bezeichnen.

Aber es war ein Auto und ich war nicht mehr darauf angewiesen, von jemand anderem gefahren zu werden. Das war für mich alles, was zählte.

Ich drückte etwas kräftiger auf das Gas, als erlaubt war, aber ich genoss die Geschwindigkeit. Durch die herunter gekurbelten Fenster drang der Fahrtwind in das Wageninnere und zerzauste mir das Haar, sodass mir einige Strähnen meines Pferdeschwanzes gegen das Gesicht schlugen. Sie störten mich nicht und ich musste unwillkürlich die ganze Fahrt über grinsen. Ich drehte das Radio laut und "Symphony" von Clean Bandit erfüllte die Luft. 

Ich war so früh aus dem Haus, dass ich noch mehr als genug Zeit hatte, bevor der Unterricht begann. Ich beschloss, spontan Frühstück und einen Coffee-to-go zu holen, etwas, was ich noch nie zuvor getan hatte. Als ich mit Latte Macchiato und einem belegten Bagel bewaffnet wieder in den Wagen stieg - in meinen Wagen - war ich voller Euphorie. 

Die Diskussion, die ich später mit meiner Mutter sicher noch führen würde müssen, verdrängte ich erfolgreich aus meinem Bewusstsein. Jetzt wollte ich erst einmal jeden Bissen meiner Freiheit genießen.

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