kapitel 2

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Als ich auf den Schulparkplatz fuhr, hatte sich meine Euphorie bereits gelegt und ich spürte einen festen Knoten im Bauch. Mit schwitzigen Händen umklammerte ich das Lenkrad, als würde es mir irgendeinen Halt geben.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ich jemandem auffiel, war sehr gering. Die Leute nahmen mich seit Jahren nicht wahr! Warum sollte sich das an bloß einem Tag ändern?
Hast du je zuvor probiert, etwas daran zu ändern?
Die Antwort war - nein! Ich hatte mich einfach in den Schatten meiner Schwestern zurückgezogen und war dort geblieben. Ich war nie laut geworden, oder hatte mit dem Fuß aufgestampft, ich hatte es einfach hingenommen.
Klar, ganz unsichtbar war ich nicht - wenn ich mich meldete, nahmen mich die Lehrer auch dran (auch wenn sie erst einmal im Klassenbuch nach meinem Namen suchen mussten - wahrscheinlich, weil ich sehr selten aufzeigte), oder wenn jemandem etwas auf den Boden fiel und ich hob es hoch und reichte es zurück, dann bekam ich immer ein dankbares Lächeln geschenkt.
Aber kaum hatten die Leute sich wieder umgedreht, war ich aus ihrem Bewusstsein wie ausradiert. Die Pausen verbrachte ich immer alleine und mit einem Buch. Und ich hatte mir irgendwann selbst eingeredet, dass das gut so war - dass ich niemanden brauchte, der mich nerven konnte und so immer Zeit hatte für das, was mir gefiel - lesen, Filme schauen, träumen. Ich brauchte auf niemanden Rücksicht zu nehmen, konnte mir anschauen, was ich wollte, wenn ich es wollte und verfügte frei über meine Zeit.
Nur dass Mum immer ihr Veto einlegte, wenn es darum ging, wie ich mich in der Öffentlichkeit zu geben hatte. Mit den unscheinbaren Klamotten und den langweiligen Frisuren, mit meiner Stille und dem zum Boden gerichteten Blick war ich niemand, dem man Beachtung schenkte. Ich war nie sauer deswegen gewesen, oder verletzt.

Nur manchmal etwas einsam. 

Heute wollte ich das tun, was ich mein ganzes Leben noch nie zuvor gewagt hatte - ich wollte mich zeigen. Mich als die Person präsentieren, als die ich war. 

Ich sah an meinem Nirvana-Top hinunter und der schwarzen Skinny-Jeans, Klamotten, die ich so noch nie getragen hatte. Sie unterschieden sich stark von den Sachen, die ich sonst trug - sie waren figurbetont und dunkler, rockiger. Für mich eine riesige Veränderung.

Die Frage war aber, ob die anderen es ebenso wahrnahmen, wie ich. Oder würden sie es überhaupt nicht bemerken. Mich nicht bemerken?

"Okay, Annie", sagte ich mir. "Du gehst jetzt da raus und wenn sie dich nach wie vor nicht sehen, dann liegt das definitiv nicht an den blöden Klamotten. Dann ist es einfach mein Schicksal, unsichtbar zu sein. Damit komme ich schon klar."

Und was, wenn sie mich doch bemerkten? Würde ich damit auch klar kommen?

Zeit, es herauszufinden!

Ich nahm einen tiefen Atemzug, schnappte mir meine Tasche vom Beifahrersitz und stieg aus. 

Überall waren bereits Schüler versammelt, hatten Gruppen gebildet oder liefen einzeln oder zu zweit über das Gelände. Sie waren vertieft in Gespräche oder in ihren eigenen kleinen Welten. 

Während ich langsam und mit wackligen Knien in die Richtung des Eingangs ging, wurde ich öfter als einmal aus versehen angerempelt. Daran war ich gewöhnt. Ein Seufzen unterdrückend eilte ich zum großen Gebäude aus Glas und Beton. 

Die Hagert's Highschool war ein recht modernes Gebilde und durch die vielen großen Fenster sehr hell und zeitgenössisch. Im Inneren waren die Wände größtenteils weiß gehalten, mit blauen Sprenkeln hier und da. Über dem langen Flur war ein Willkommens-Banner gehangen worden, welches die neuen Schüler begrüßte und zu einem neuen Schuljahr einlud. Es war in Grün und Blau gehalten - den offiziellen Farben unserer Football-Mannschaft. 

Ich holte mir meinen Stundenplan im Sekretariat ab und schaute, welches Fach ich in meiner ersten Stunde hatte. Dann machte ich mich auf den Weg zum Chemieraum.

Während ich die Korridore entlang lief, hielt ich die Arme vor der Brust verschränkt. Ich hatte meinen Rucksack über einer Schulter gehangen und wie üblich den Blick gesenkt. Ich hatte das beklemmende Gefühl, dass alle mich anstarrten, doch jedes mal, wenn ich aufsah, schaute niemand zu mir.

Entweder war ich paranoid, oder das Kribbeln, das ich auf meiner Haut spürte, hatte nichts mit den Augen anderer zu tun, sondern nur mit meinem eigenen Unwohlsein. 

ich nahm an, das es Letzteres war.

Kinn hoch, sagte ich mir, Brust raus. Zeige dich. Du bist da, du bist kein Geist. Sie sollen dich sehen!

Es war verdammt schwer, meiner eigenen Aufforderung nach zu kommen. Mein Kinn schien plötzlich Tonnen zu wiegen und ich musste mich anstrengen, um das Gesicht zu heben und die Schultern zu straffen. 

Warum fühle ich mich so ... preisgegeben?

Kalter Schweiß rann mir den Rücken hinab und meine Hände fühlten sich ganz klamm an, als ich den Chemiesaal erreichte. Zögernd trat ich ein.

Es waren noch kaum Schüler anwesend, ebenso wenig wie unser Lehrer. Aus reiner Gewohnheit wollte ich nach hinten durchgehen, um mich in die letzte Reihe zu setzen. Im letzten Augenblick hielt ich jedoch inne und starrte den leeren Stuhl in der Ecke mit einer Mischung aus Abscheu, Scham und Wut an. 

Dann drehte ich mich auf dem Absatz um und suchte nach einem anderen Platz. 

Als mein Blick auf ein Mädchen fiel, das alleine am Fenster saß, die Nase in ein Heft gesteckt und mit Kopfhörern auf, zögerte ich unsicher. Dann gab ich mir einen Ruck und ging zu ihm. Mit wildem Herzklopfen schob ich den Stuhl neben ihr zurück.

Sie bemerkte die Bewegung und sah hoch.

Ich versuchte, zu lächeln. "Ist ... äh ... ist es okay, wenn ich ...?

Ich hatte den Satz noch nicht einmal zu Ende gesprochen und ich bezweifelte, dass sie mich wirklich gehört hatte - jedenfalls zuckte sie mit der Schulter und widmete sich wieder ihrem Comic zu. Ihr war es wohl egal, ob ich neben ihr saß oder nicht.

Ich schluckte und ließ mich nervös auf den Platz gleiten. Ich hatte mich tatsächlich getraut, jemanden aus eigenem Antrieb anzusprechen und mich freiwillig neben eine andere Person zu setzen. Ich hätte wohl stolz auf mich sein sollen ... wäre die Reaktion meiner Sitznachbarin nicht so ... demotivierend.

Ich holte Block und Schreibsachen aus meinem Rucksack und breitete sie vor mir auf dem Labortisch aus. Dann ... saß ich einfach nur da. Ich sah mich um - nur allmählich füllte sich der Raum mit weiteren Schülern. 

Ich wusste nichts mit mir anzufangen. Irgendwann war ich das bloße Dasitzen leid und ich holte mein Smartphone hervor, stöpselte meine Kopfhörer ein und tat es meiner neuen Sitznachbarin gleich - ich drehte die Musik laut und begann auf meinem leeren Block herum zu kritzeln. 

Irgendwie verlief das mit dem Wahrgenommen-werden nicht so ganz, wie ich es mir vorgestellt hatte. Andererseits, was hatte ich erwartet? 

Nur, weil ich mich mal etwas anders angezogen hatte, machte mich das nicht zu einem völlig neuen Menschen. Neue Klamotten allein würden die Leute um mich herum nicht dazu bringen, mich anzusehen. Das zu sehen, was in meinem Inneren vorging. Was für mich ein Riesen Schritt war, war für Außenstehende nicht zu erkennen.

Der Gedanke war irgendwie deprimierend.

Und ehe ich es mich versah, sank ich zurück in meine alten Gewohnheiten. Ich hielt den Kopf gesenkt, kritzelte meinen Block mit seltsamen Motiven voll und verschwand von der Bildfläche.

KylerWhere stories live. Discover now