Kapitel 11

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Müde legte ich mich ins Bett. Durch die Jalousien schien das schwache Licht der Straßenlaterne hindurch. Ich atmete ruhig. Jedes Mal, wenn ich versuchte, einzuschlafen, musste ich an Chris denken. Er war mir nachgelaufen, hatte mich schließlich bis nach Hause begleitet. Bis heute hätte ich mir das niemals vorstellen können. Ich meinte damit, dass er einfach anders war, als alle Menschen, mit denen ich sonst befreundet war. Chris war unglaublich einschüchternd, aber wirkte trotzdem so, als könnte man gut mit ihm auskommen.

Ich seufzte. Das Einschlafen konnte ich vergessen. Ich schlug genervt meine Bettdecke zurück. Chris würde nicht einfach aus meinen Gedanken verschwinden, nur weil ich meine Augen schloss. Er war so präsent, wie es Liam niemals gewesen war.

Auf Zehenspitzen lief ich durch das Gästezimmer meiner Nana. Ich wollte keinen Lärm machen und meine Großmutter dadurch wecken. Immerhin war es bereits zwei Uhr morgens.

Ich schnappte mir ein Haargummi, um mir meine nassen Haare zu einem hohen Dutt zusammenzubinden. Dann fiel mein Blick auf die Lederjacke, die über der Heizung trocknete. Vorsichtig fuhr ich mit dem Zeigefinger über das feuchte Leder. Ich starrte auf meine Hand, mit der ich die Jacke berührte. Das Leder bewegte sich ein wenig und ich merkte schnell, dass Chris Lederjacke auf der rechten Seite schwerer war als auf der Linken.

Irritiert tastete ich die Jacke ab. Vielleicht hatte Chris vergessen, sein Handy aus der Jackentasche zu nehmen. Ich fasste in die Tasche und fischte etwas heraus, was definitiv kein Handy war. Es war ein Tütchen, das aber nicht sonderlich schwer war. Also griff ich nochmal in die Tasche, in der noch etwas anderes steckte.

Mit meiner Hand tastete ich die durchsichtige Verpackung ab. So etwas hatte ich bisher nur ein einziges Mal gesehen; in meinem Biologiebuch.

In dem Plastiktütchen befand sich etwas pulverartiges, weißes. Ich wusste nicht, ob ich es im spärlichen Licht richtig erkennen konnte oder ob ich überhaupt mit meiner Vermutung richtig lag. Doch ich dachte in diesem Augenblick wirklich, dass das weiße Pulver in dem Plastiktütchen Kokain oder reines Heroin sein könnte. Denn Crystal bestand, soweit ich das wusste, aus kleinen Kristallen.

Es war ein ungewohntes und beängstigendes Gefühl, zu wissen, dass ich um zwei Uhr morgens, im Haus meiner Großmutter, ein Plastiktütchen mit Drogen in den Händen hielt. Und diese Drogen hatte in der Jackentasche von Chris gesteckt.

Ich griff schnell nach meiner Schultasche und zog meine kleine Kosmetiktasche heraus. Darin bewahrte ich immer genügend Taschentücher – als Vorrat – auf. Außerdem ließen sich Haargummis auf diese Weise sehr gut transportieren, denn ich verlor diese ständig und im Sportunterricht brauchten meine Freundinnen und ich immer welche.

Vorsichtig faltete ich das durchsichtige Tütchen in der Mitte, um es in meiner Kosmetiktasche zu verstecken. Dann begutachtete ich den schweren Gegenstand in meiner linken Hand, der die Lederjacke fast von der Heizung gezogen hatte.

Ich ließ meine Finger über den schwarzen Kunststoff gleiten. In mir kamen Erinnerungen von meinem Vater und mir hoch. Vor vielen Jahren hatten wir nämlich bei einem Freund von ihm in einer Werkstatt unseren Esstisch bauen lassen. Dort hatte es auch solche Gegenstände aus Kunststoff gegeben. Wäre das Licht ein bisschen besser, hätte ich genaueres erkennen können. Jetzt musste ich mich jedoch auf mein Gefühl verlassen. Das Licht würde höchstens meine Nana aufwecken und das brauchte ich unter diesen Umständen wirklich nicht zu riskieren.

Also stopfte ich die Kosmetiktasche mit dem Plastiktütchen und dem mysteriösen Gegenstand zurück in meine Schultasche. Morgen in der Schule würde ich Chris zur Rede stellen. Oder ich würde ihm einfach nur seine Sachen zurückgeben und mich daraufhin von ihm fernhalten.

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