Kapitel 16

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Emma und ich trennten uns an der Hauptstraße. Da sie nun wusste, dass ich momentan nicht mehr zu Hause wohnte, konnte ich offener mit ihr sprechen. Ich brauchte keinen Umweg mehr zu laufen und ich fühlte mich auch nicht mehr ganz so schlecht.

Von hinten hörte ich Motorengeräusche, die ich in dieser kaum befahrenen Straße eigentlich nicht erwartet hatte. Reflexartig drehte ich mich um und erblickte einen jungen Motorradfahrer. Er hielt am Straßenrand. Irritiert beobachtete ich ihn dabei, wie er sich den Helm vom Kopf zog. Braune, verwuschelte Haare offenbarten sich. Ich konnte die Hoffnung nicht unterdrücken, die sich in mir aufbaute.

„Bist du schon mal Motorrad gefahren?", rief Chris mir zu.

Ich verdrehte meine Augen. Vorhin hatten wir uns noch gestritten, anschließend hatte er sich geprügelt und mir keinerlei Beachtung geschenkt. Wie zum Teufel kam er dann darauf, dass ich tatsächlich mit ihm Motorradfahren würde?

„Nein und ich werde es auch bestimmt nicht ausprobieren." Ich drehte mich von Chris weg. Motorradfahren war gefährlich. Das hatten mir meine Familie und Freunde schon früh eingebläut.

„Avery, ich wollte mich nicht streiten. Komm schon" Chris stieg vom Motorrad. „Ich habe sogar Helme dabei, weil ich dachte, das ist dir bestimmt lieber. Also komm mit, lass uns einmal von hier abhauen."

Sein Angebot klang schon irgendwie verlockend. Doch warum wollte er ausgerechnet mit jemandem wie mir abhauen? Wir hatten nichts gemeinsam, wir kannten uns ja nicht einmal richtig und ganz offensichtlich wollte Chris das auch nicht.

„Gut, was muss ich tun, damit du nur eine ganz kleine Runde mitfährst?" Chris kam näher und ich wandte mich ihm wieder zu. Sein Lachen war unfassbar schön. Es zog mich magisch an und der Bluterguss auf Chris Wange fiel kaum noch auf.

„Es ist wie eine andere Welt, wenn einem der Wind durch die Haare weht und man schnell über die Straßen fährt. Man fühlt sich so frei, wie noch nie." Chris griff nach meinen Händen. Er beugte sich nach vorne, um mich vom Weggehen abzuhalten.

„Ich kann nicht mit dir Motorradfahren", versuchte ich mich rauszureden. Ein Lächeln konnte ich mir jedoch nicht verkneifen. Und als Chris mich mit sich zog, wusste ich überhaupt nicht mehr, worauf ich mich gerade eingelassen hatte.

„Nein, Chris-"

„Ich werde aufpassen, dass du nicht hinten runterfällst, ja?" Chris lachte und gab mir einen Helm. Mir war nicht nach Lachen zumute, weswegen ich Chris bloß eine Grimasse schnitt und den Helm aufsetzte.

Es war ein komisches Gefühl, sich auf ein Motorrad zu setzen. Aber noch komischer war es zu wissen, dass Chris gleich vor mir saß und ich mich an ihm festhalten musste. Ich konnte nämlich unglaublich tollpatschig sein. Wenn es also jemandem gelingen könnte, hinten vom Motorrad herunterzufliegen, dann würde es mir passieren.

Chris startete den Motor. Ich hatte keine Ahnung, was ich nun zu tun hatte. Also schlang ich meine Arme fest um Chris und schloss instinktiv meine Augen, als es mit einem Mal losging. Misstrauisch beobachtete ich, wie wir immer schneller fuhren. Die Gärten zogen an uns vorbei, als wären sie Vögel, die auf dem Weg in den Süden waren.

Die Zeit verflog rasend schnell, während wir nur durch die Gegend fuhren. Einige Nebenstraßen führten uns schließlich wieder zur Hauptstraße und zum Schluss bog Chris in einen Feldweg ab. Das Motorengeräusch konnte ich einfacher ausblenden, als ich gedacht hatte. Meinen Blick ließ ich andauernd schweifen. Es stimmte, ich fühlte mich wirklich frei auf diesem Motorrad. Chris gab mir ein wohliges, sicheres Gefühl.

Langsam bremste Chris ab. Wir befanden uns immer noch auf einem Feldweg. Erst als ich aufschaute, bemerkte ich den wahnsinnig schönen Ausblick, den man von hier aus hatte. Denn sobald man geradeaus sah, waren vor uns nur noch Wiesen und Felder, eine endlose Weite, die unbeschreiblich toll aussah.

LügennetzeWhere stories live. Discover now