Das Oberste Gebot

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Der Abend war schnell vergangen und direkt am Montagmorgen gab es für Clara und Faye viel zu tun. Die Perlen hatten sie übers Wochenende fertiggestellt, was vor allem die Brünette stark erschöpft hatte. Mit der Zeit würden sich ihre magischen Kräfte wieder regenerieren, doch für die nächsten Tage sollte sie auf stärkere Zauber verzichten. Das war zum Glück nicht allzu schwierig, da sie immerhin ihrer Schwester versprochen hatte, im Laden zu helfen. In einem Laden, in dem beide Tagsüber auf jegliche Magie aufgrund der menschlichen Kundschaft sowieso verzichten mussten. Das Risiko war ansonsten zu groß, beim Wirken von Magie gesehen zu werden.
Es gab bereits am Vormittag einiges zu tun. Clara bekam eine neue Lieferung an Stoffen, die sie entgegennahm, während Faye die ersten Kunden bediente. Es waren überwiegend Menschen, die in der Umgebung wohnten und sich wunderten, wer die neue nette Dame im Laden war.
"Mein Name ist Faye. Ich helfe meiner Schwerster hier für eine Weile aus.", war die Antwort, die die Brünette jedem gab, der fragte. Einige Kunden kamen auch mit neuen Aufträgen, die Faye so notierte, wie es ihr ihre Schwester noch vor der Öffnung des Ladens gezeigt hatte. Kleidung entgegennehmen, Auf einem Zettel Name, Auftrag und Telefonnummer notieren und in eines der leeren Fächer hinter der Theke legen. Faye machte ihre Arbeit sehr gut. Sie hatte nicht gelogen als sie gemeint hatte, Clara so gut es ging zu helfen. Die Rothaarige konnte sich derweil um das Nähen von ihren Aufträgen kümmern. Sie schaffte es das Kleid für die Zahnfee fertig zu machen und bei dem Brautkleid kam sie auch ein ganzes Stück weiter. Die Geschwister wirkten wie ein eingespieltes Team, dass bereits Jahrzehnte zusammen agierte. Doch es lag viel mehr an der langen Zeit, die die Geschwister schon gemeinsam durchlebt hatten und ihren Erfahrungen als Verkäuferinnen, dass sie sich wortlos verstanden. Faye handelte seit knapp vierhundert Jahren mit Flüchen und Zaubern. Sie konnte dementsprechend gut mit Kunden umgehen und war an der Kasse besser zu gebrachen als an der Nähmaschine, an der Clara definitiv das bessere Händchen hatte.
Den ganzen Vormittag beschäftigte Faye allerdings eine ganz bestimmte Frage. Was war die zweite noch zurückgebliebene Emotion, die Clara noch verspürte? Das ganze Wochenende hatte sie es immer noch nicht herausgefunden, da Clara es zu sehr amüsiert hatte wie ahnungslos ihre Schwester war. Das einzig Positive war, dass die Brünette ihre Schwester fröhlich erlebte. Nicht wie ein emotionsloser toter Fisch. Doch sie wusste nicht, dass sich ihre Ahnungslosigkeit im Laufe des Tages ändern sollte...
Clara hatte gerade wieder für eine Weile die Kasse übernommen, während Faye dabei war die neuen Stoffe in ein Regal einzusortieren. Zumindest die 'normalen' Stoffe. Die von der übernatürlichen Sorte wurden in einem Regal im verschlossenen Hinterzimmer aufbewahrt. Zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Tag ertönte dann plötzlich das helle Klingeln der Ladentür. Sowohl Claras als auch Fayes Kopf drehten sich in die Richtung der Tür, durch die sowohl der Osterhase als auch der junge Wintergeist Jack Frost eintraten.
"Guten Tag ihr zwei.", grüßte die Rothaarige die beiden freundlich lächelnd, bevor sie ihrer Schwester mit einem kurzen unauffälligen Blick noch zu verstehen gab, dass Kleid der Zahnfee gut zu verstecken. Faye nickte warf den beiden Hütern noch ein begrüßendes Lächeln zu und verschwand in den hinteren Teil des Ladens.
"Neue Mittarbeiter, Keule?", fragte der Hase mit einem leicht belustigten Unterton. Jack, welcher hinter seinem großen Freund stand, verdrehte hingegen nur mit einem leichten Lächeln die Augen. Das entlockte der Hexe ein kleines Kichern.
"So in etwa. Gewöhn dich aber nicht zu sehr an sie, Aster. Sie hilft mir nur für ein paar Wochen aus. Also, was kann ich für euch tun?" Bevor der Osterhase jedoch antworten konnte, hatte der Wintergeist sich bereits eingemischt.
"Unserem Puschel Schwänzchen hier ist der Gurt für seine Bumerangs gerissen.", kommentierte er und kassierte dafür einen finsteren Blick vom Osterhasen. Aster räusperte sich dann nochmal kurz, bevor er fortfuhr.
"Jedenfalls müsste der Gurt genäht werden. Es wäre schön, wenn du dich darum kümmern könntest." Er legte den Gurt auf den Tresen und die Hexe notierte sich bereits alles auf einem Zettel. Faye, die bereits das Kleid zwischen zahlreichen anderen Kleidungsstücken in einem Schrank versteckt hatte, beobachtete neugierig das Treiben ihrer Schwester. Das Einsortieren der Stoffe hatte sie bereits wieder aufgenommen. Mit einem Mal schien sich jedoch etwas in der Atmosphäre des Ladens zu ändern. Es lag nicht an den Hexen oder den beiden Hütern. Nein. Eine weitere Person war dabei den Laden zu betreten.
"Clara, spürst du das?", sprach Faye ihre Schwester auf die kommende Aura an. Clara hatte von ihrem Zettel aufgesehen und nickte mit ernster Miene. Sie hatte anders als die Brünette auch schon eine genaue Ahnung wer hier gleich reinplatzen würde. Innerlich seufzte sie bereits. Das dürfte jetzt anstrengend werden... Die beiden Hüter konnten anders als die Hexen die magische Aura zwar nicht spüren, doch als die Lichter anfingen zu flackern wurde auch ihnen bewusst, dass gleich jemand den sie nur allzu gut kannten die Bildfläche betreten würde. Schlussendlich wurde es in einer Ecke des Ladens besonders finster und die Lichter erloschen nun vollständig. Aus dem Schatten erhob sich nun die große schlanke Gestalt des Albtraumkönigs. Die Hüter verspannten sich sichtlich, legten finstere Blicke auf und stellten sich in Kampfposition auf. Pitch, der gemächlich und erhaben aus den Schatten hervortrat, hatte dafür nur ein spöttisches Lächeln übrig.
"Na wen haben wir denn hier? Zwei der fünf großen Hüter an denen ich mich noch rächen werde. Wie unerfreulich." Bei seinem letzten Satz wich das spöttische Lächeln einem finsteren Ausdruck, der sich auch in der zunehmend bedrückenderen Aura manifestierte. Sowohl Jack als auch der Hase waren genauso wenig begeistert ihrem Erzfeind so schnell wieder zu begegnen.
"So? Bei unserer letzten Begegnung bist du in deine eigene Grube gefallen, Pitch. Ich für meinen Teil glaube, dass du Bettvorleger wieder versagen wirst."
Steif vor Angst beobachtete Faye das Geschehen. Sie war eigentlich unerschrocken und konnte gut ihre Ängste verbergen. Sie hatte zum Teufel nochmal das verdammte Mittelalter überlebt und anders als ihre Schwester nie den leichten Weg gewählt und ihre Emotionen verkauft. Doch so wie sich die Hüter und der schwarze Mann in Rage redeten, wurde die dunkle Atmosphäre, die von Pitch ausging, immer finsterer und bereitete selbst ihr eine Gänsehaut. Ihr Herz trommelte in einem beachtlichen Tempo gegen ihre Brust. Doch ein kurzer Blick zu ihrer Schwester schien die dunkle Spirale, in der sie sich mit ihrer Angst befand, anzuhalten. Die Rothaarige beobachtete genau wie sie das Geschehen. Jedoch nicht mit einem monotonen Ausdruck. Die Streithähne vor ihr waren kurz davor sich an die Hälse zu springen, als Clara vor Wut anfing zu schreien.
"RUHE!" An ihrer Schläfe pochte eine Ader ganz deutlich und auch an ihrem Hals konnte man an einer Ader ihren wütenden Puls förmlich ablesen.
Wut war es also. Fayes Angst war wie die dunkle Aura mit dem wutentbrannten Schrei ihrer Schwester wie weggeblasen und die Zeit schien für einen kurzen Moment still zu stehen. Freude und Wut. Die verbliebenen zwei Emotionen ihrer Schwester. Es blieb auch nicht lange ungeklärt, warum die Hexe so erbost war. Ein fast schon aggressiv freundliches Lächeln legte sich auf Claras Lippen, während die Adern an Hals und Schläfe weitern pochten.
"Ich möchte die Herrschaften freundlichst daran erinnern, wie das oberste Gebot hier in meinem Laden lautet: KEINE Auseinandersetzungen!" Nun war selbst das Lächeln verschwunden und die blauen Augen der Hexe funkelten, als ob sie töten könnten. "Ihr könnt euch gerne an einem anderen Ort nach Lust und Laune die Schädel einschlagen, doch nicht in meiner Schneiderei. Ansonsten solltet ihr euch an einen anderen Schneider wenden, da ich euch allen ein Hausverbot aufdrücken würde. Haben wir uns verstanden?!"
"Aber selbstverständlich. Nicht wahr?", antwortete Pitch und setzte noch eine provozierende Frage an Jack und den Osterhasen dran. Die warfen dem Albtraumkönig noch vernichtende Blicke zu, nickten aber.
"Gut." Clara legte nun den Gurt des Osterhasen in eines der leeren Fächer hinter sich. Sie atmete noch einmal kurz durch, bevor sie weitersprach. "Aster, ich werde mich drum kümmern. Ihr zwei könnt gehen. Und was dich betrifft, Pitch..." Noch immer sauer fokussierte sie den schwarzen Mann. Er sah bereits wesentlich gesünder und stärker aus, als bei ihrem letzten aufeinandertreffen. "Erstens; hör auf meine Kunden zu provozieren. Sonst schmeiß ich dich raus. Zweitens; wenn wir dann mit dem Puppentheater hier fertig sind, sag mir was du willst. Obwohl ich mir schon denken kann, worum es geht."
Faye kam aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Clara hatte durch ihre fehlende Angst wirklich keine Skrupel jemanden wie Pitch Black zu drohen. Es war mehr als eindeutig das die Hexe hier am längeren Hebel saß als er. Sonderlich zu gefallen, schien ihm das auch nicht gerade, wie es sich eine einfache Hexe erlauben konnte mit ihm so zu reden. Jedoch war sie die einzige magische Schneiderin, die ihn als Kunden annahm. Also schluckten beide ihren Ärger über die vergangenen Minuten herunter und kamen zum Geschäftlichen. Die beiden Hüter hatten das Geschäft längst verlassen, als Pitch einen neuen Mantel bei Clara in Auftrag gab.
Gedankenverloren lauschte die Brünette dem Gespräch der beiden. Faye spürte momentan nicht einen Hauch von Angst. Euphorie durchströmte ihre Venen und ein listiges Lächeln zierte ihr Gesicht. Es war weder schwer zu überhören noch zu übersehen, dass es Pitch ärgerte, wie furchtlos Clara ihm gegenüber war. Das war besser als sie es sich hätte ausmalen können. Es war perfekt. Einfach nur perfekt. Der Plan, den die jüngere Schwester seit einer ganzen Weile plante, würde in wenigen Wochen endlich in die Tat umgesetzt werden.

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