Die Trauer

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31.12.1918

Silvester. Ein Tag an dem man sich vom Alten verabschiedet und in die Zukunft blickt. Gemeinsam mit Freunden auf neue Ziele anstößt und eine Menge Geld in Form von leicht entzündlichem Pulver in die Luft jagt, sich an den bunten Farben erfreut und den ohrenbetäubenden Explosionen lauscht. Also eine sehr besinnliche Nacht.
Auch auf den Straßen der kleinen Stadt in der Clara ihren Laden hatte, feierten die Menschen und freuten sich auf den Countdown. Neujahr würde in wenigen Minuten beginnen. Doch es gab eine Person unter ihnen, die nicht wegen der Feierlichkeiten in dieser Nacht auf dem Weg zur Schneiderin war und sich, ohne auch nur von irgendjemandem bemerkt zu werden, fortbewegte. Es war der Weihnachtsmann. Manch einer könnte sich wundern, was der große bärtige Russe an diesem Abend in einer Stadt der Menschen machte. Weihnachten war längst vorbei und er ging auch nicht aus dem Grund zur Schneiderei, wegen eines Auftrags oder einer Bitte. Sorge war es eher.
An Heiligabend ging es nicht nur um das Beschenken der Kinder und die Aufrechterhaltung ihres Glaubens allein. Nein, es ging auch um die Familie. Das Zusammenkommen. Es war das Fest der Liebe, was selbst Amor bezeugen konnte. Die Hexe war davon nie ausgenommen. Auch sie besuchte jedes Jahr über die Weihnachtsfeiertage ihre jüngere Schwester und ihren Vater. Das wusste der Kosake so genau, weil er die Hexe jedes Jahr von Neuseeland nach England brachte, während er seine Weihnachtsrunde drehte. Er wollte dafür keinerlei Entschädigung. Ihre blauen Augen waren jedes Jahr so voller Staunen und Glück, dass ihm allein ihr von Zufriedenheit erfüllter Ausdruck reichte. Es hatte ihn stehts daran erinnert, dass er mit seinen Taten als Weihnachtsmann genau diese leuchtenden Augen in jedes Kindergesicht der Welt zauberte. Das sein Fest auch die Erwachsenen dazu anhielt, sich einen paar Tage lang am Zusammensein mit den Liebsten zu erfreuen, oder auch ihnen mit Geschenken Freude und Staunen zu geben. Doch dieses Jahr war es anders. Am Weihnachtsabend war Clara nicht mitgekommen. Sie hatte mit einem traurigen Lächeln abgelehnt und ihm noch eine gute Reise gewünscht, bevor sie wieder in ihren Laden gegangen war und abgeschlossen hatte.
North war bei dem Gedanken an ihr trauriges Gesicht, dass mit aller Kraft versuchte sorglos zu wirken, nicht wohl. Irgendetwas war vorgefallen in der Familie. Etwas Anderes konnte er sich nicht vorstellen. Die Hexe brauchte seiner Meinung nach Gesellschaft. Also war er mit einer Flasche Vodka zu Silvester vorbeigekommen, um sie aufzuheitern und ihr beizustehen. Was auch immer sie durchmachte.
Mittlerweile stand er vor der Ladentür. Die Vorhänge im Fenster waren zugezogen und auch das Fenster der Tür erlaubte durch eine heruntergelassene Gardine keinen Einblick. Doch man konnte ein leichtes Licht durch den Stoff ausmachen. In der Hoffnung, die Hexe hatte vergessen abzuschließen, drückte er den Türknauf. Zwar rechnete er fest damit, dass Clara im Zuge ihrer Ordentlichkeit wie immer abgeschlossen hatte, doch dem war nicht so. Die Eingangstür in die Schneiderei ließ sich öffnen. Vorsichtig betrat der Kosake das Geschäft. Im vorderen Teil war alles wie immer ordentlich aufgeräumt. Es brannte hier kein Licht. Von weiter hinten drang allerdings ein sanfter heller Schein durch und ließ die Schneiderei nicht allzu dunkel erscheinen. Eine kleine Treppe führte auf die Anhöhe, die den hinteren Teil des Ladens ausmachte. Ein Paravent Raumteiler verbarg die Sicht nach hinten, wo üblicherweise die Sitzecke war und die vielen Kleider an den Stangen hingen und sowohl auf ihre Fertigstellung als auch auf ihre Abholung warteten. Aus genau dieser Ecke kam auch das Licht. Durch den Raumteiler konnte North auch bereits den Schatten Claras erkennen. Es schien, als ob sie gebeugt über dem kleinen Tisch sitzen würde.
Langsam erklomm der Weihnachtsmann die wenigen Stufen die Anhöhe hinauf und warf einen Blick in die Sitzecke. Da saß sie. Das Licht ging von einer Stehlampe in der hintersten Ecke aus und Beleuchtete alles nur in einem recht fahlen Licht. Die strahlenden blauen Augen, die North kannte, waren einem trüben Nichts gewichen. Sie wirkten nun eher wie ein leergefischter Ozean. Kalt und leblos. Claras Gesicht war zudem leicht rot und aufgequollen. Noch immer zierten die Bahnen von getrockneten Tränen ihre Wangen, über die immer noch weitere wässrige Perlen rannen. Die Hexe schien nur noch ein Schatten ihrer Selbst zu sein. Von Trauer und Schmerz zerfressen. Gekrümmt saß sie dort in einem der Sessel. Die Beine an sich gezogen. Auf dem Tisch stand bereits eine geöffnete Flasche Rotwein, in der vielleicht nur noch ein winziger Schlug auf seinen Verzehr wartete. Daneben ein Glas, in dem nur noch leichte Spuren des Alkoholes seine Benutzung verrieten. Dem Kosaken war schnell klar, irgendetwas schreckliches war passiert. Langsam und vorsichtig näherte er sich Clara und setzte sich ihr gegenüber auf einen weiteren Sessel. Die Schneiderin hatte ihn längst bemerkt, sagte jedoch keinen Ton. Fürs erste schwiegen beide und starrten sich nur an.
Die Rothaarige fühlte sich nur elendig. Das jemand sie in diesem Zustand finden musste war einfach nur die Krönung von allem. Durfte sie jetzt nicht einmal in Ruhe trauern?
"Was machst du hier, North?", sprach sie ihn mit heiserer und schwacher Stimme an, als hätte sie die letzten Stunden nur geschrien. Zudem brummte ihr Schädel gewaltig. Der Weihnachtsmann räusperte sich kurz.
"Ich habe mir Sorgen gemacht.", gab er ihr mit sanfter Stimme zu verstehen. "Was sein passiert, Clara?"
"Was interessiert dich das...?", antwortete sie kalt mit ihrer kratzigen Stimme und drehte ihren Kopf in eine andere Richtung. Die warmen Augen des Weihnachtsmannes erinnerten sie mit ihrem besorgten Blicken nur an ihren Vater. Sofort quollen erneut einzelne Tränen aus ihren glasigen Augen.
"Du bist gute Person.", antwortete der Bärtige auf ihre Frage. "Du sonst bist immer fröhlich und hilfsbereit. Wolltest immer an Weihnachten zu Familie." Der Blauäugige konnte den Schmerz förmlich sehen, den das letzte Wort seines Satzes Clara bereitete. "Ich möchte helfen. Sag mir, was ist passiert?" Nach einem Moment des Schweigens drehte die Hexe dann doch ihren Kopf wieder in Richtung ihres Besuchers. Tränen strömten nun unaufhörlich aus ihren Augen, die bereits rot unterlaufen waren.
"Er ist tot.", keuchte sie mit heiserer Stimme und hielt ihre Hände vors Gesicht, während sie in lautes Schluchzen verfiel. "Mein Papa. Er ist... ist..." Es stach in Claras Brust, als würde ihr jemand eine Stricknadel ins Herz rammen. Immer und immer wieder. Selbst als sie nun spürte, wie der Weihnachtsmann sie in eine herzliche Umarmung zog, um sie zu trösten, weinte sie unaufhörlich weiter. Behutsam strich Nicholas ihren Rücken, der unregelmäßig auf und ab bebte. Hin und wieder gab die Rothaarige noch etwas aus ihrer trockenen Kehle wie "Warum...", oder "Das hat er nicht verdient..." von sich. Immer wieder, sodass es auch dem Weihnachtsmann schwere Stiche ins Herz versetzte die Frau in seinen Armen so leiden zu sehen. Von draußen hörte man bereits lautes Jubeln und Feiern. Die Explosionen der Feuerwerkskörper. Ausgelassene Menschen, die sich wahrscheinlich auch in den Armen lagen, jedoch aus einem völlig anderen Grund.
Clara mochte es sich selbst nicht gerne eingestehen, doch die Umarmung von North tat gut. Sie fühlte sich nicht einsam. Jedoch gab es diesen stechenden Beigeschmack; es erinnerte sie an ihren Vater. Aber es war ihr nun so, als wäre er noch hier und derjenige, der sie tröstete. Dafür war sie Nicholas gerade dankbar.
Weitere Minuten vergingen, in denen sich die Schneiderin tatsächlich langsam beruhigte und ihre Atmung wieder regelmäßiger wurde. Auch nachdem der Fluss aus Tränen wieder versiegt war, dauerte es noch eine Weile, bis sich Clara vom Weihnachtsmann löste. North setzte sich nun direkt neben sie und löste seine Umarmung. Die Hand ließ er aber weiterhin auf ihrem Rücken ruhen und strich weiter tröstend über diesen.
"Danke schön.", nuschelte Clara erschöpft zum Weihnachtsmann.
"Keine Ursache.", nuschelte der Bärtige zurück und bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln, welches tatsächlich, wenn auch nur sehr schwach, von Clara erwidert wurde. Es wich auch schnell wieder einem traurigen Ausdruck, der an der Weinflasche hängen blieb. Traurig seufzte sie.
"Ich bin ein Wrack, oder? Einfach nur erbärmlich."
"Wie kommen du jetzt auf sowas? Traurig sein ist okay." Doch von den Worten des Weihnachtsmanns blieb die Hexe gänzlich ungerührt.
"Nicht für mich.", antwortete sie. "Bevor er in den Krieg zog und... dort... Da hatte ich keine Angst ihn zu verlieren. Ich hatte keine Angst ihn nie wieder zu sehen. Anders als Faye. Hätte ich doch nur meine Angst noch, dann... dann..." Nicholas verstand, worauf Clara hinauswollte. Sie fühlte sich für seinen Tod verantwortlich. "Und Faye hasst mich deswegen bestimmt auch. Als wir die Nachricht bekommen haben, ich... ich konnte ihr nicht in die Augen sehen." Langsam quollen nicht nur Claras Gedanken der letzten Wochen und Monate aus ihr heraus, sondern auch neue Tränen. Ihr Schädel dröhnte bereits. Langsam schien sie zu dehydrieren. Mit aller Macht, die sie noch hatte, versuchte sie dennoch nicht erneut in einen Heulkrampf zu verfallen, wischte sich die neuen Tränen immer wieder weg und bemühte sich die Schnappatmung unter Kontrolle zu bekommen. Die große Hand des Kosaken, die beruhigend über ihren Rücken strich, half ihr tatsächlich dabei.
"Du sein nicht schuld.", sagte Nicholas bedacht und ruhig, als die Blauäugige sich wieder gefangen hatte. "Du kannst nicht wissen, was in Zukunft passiert. Du nur kannst handeln für Problem in Gegenwart. Nun es ist Vergangenheit und du sie nicht ändern kannst." Das bezog North mehr darauf, dass sie damals keine Angst hatte ihren Vater gehen zu lassen. Er hatte schließlich keine Ahnung davon, dass Clara wirklich keine Angst mehr besaß. Doch genau dieses loswerden der Angst ist der Fehler, den Clara hier momentan bereute. Doch sie sah die Worte des Weihnachtsmanns ein. Wie hätte sie im Mittelalter ahnen können, dass ihr Vater im zwanzigsten Jahrhundert in den Krieg ziehen und fallen würde? Selbst eine Hexe oder ein mächtiges Orakel konnte nicht so weit in die Zukunft sehen. Nun war es aber geschehen. Schmerz und die Trauer machten sich in ihr breit. Clara hatte diese Emotion noch nie richtig verstanden. Warum gab es sie überhaupt? Konnte man sich nicht einfach von vornerein die schönen Erinnerungen an die dahingeschiedene Person im Herz behalten und glücklich weiterleben, ohne vorher all diesen Mist durchzumachen, den die Trauer mit sich brachte?
"Wie lange wird es so unsagbar schmerzen...?", fragte die Rothaarige heiser den Weihnachtsmann.
"Eine ganze Weile.", antwortete North ehrlich. "Doch es werden besser. Glaub mir." Clara glaubte ihm und schätzte seine ehrlichen Worte. Allerdings brachten diese Worte sie nur näher an einen Beschluss. Sie würde ihre Trauer mit dem Zauber beenden, der sie, aus ihrer Sicht, in diese Lage gebracht hatte. Ihre Trauer würde für immer weichen, doch die schönen Erinnerungen bleiben. Sie würden ihr weiterhin wärme spenden.

Tailoring FowlerWhere stories live. Discover now