Kapitel 06

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Herr Schmidt hatte sich angewöhnt mittags ein kleines Nickerchen zu halten. Früher an der Universität hatte er sich das nie erlauben können, denn zu dieser Zeit hatte er immer mit seinen Saufkumpanen in der Kneipe gesessen. Sie hatten drüber diskutiert, wie schwierig das Leben doch später am Tag werden würde, wenn das Lokal dicht machte, und als einzige Alternative zum Alkohol der Schlaf blieb.

Plötzlich rüttelte ihn jemand am Arm.

„He, Schmidt.“

„Wassisn?“ grunzte er verschlafen.

„Post für Dich.“

Etwas Schweres traf Herrn Schmidt mit voller Wucht in der Magengegend. Röchelnd öffnete er die Augen. Vor, oder genauer gesagt auf ihm, lag ein riesiger Postsack. Dahinter erkannter er vage die Gestalt eines Wächters.

„Wir haben sie alle überprüft. Kein Metall drin, und Rauschgift auch nicht. Ist mir unbegreiflich, warum dir so viele Leute schreiben wollen sollten.“

Der Wächter ging davon.

Schmidt öffnete die Verschlüsse und holte eine Hand voll Briefe aus dem Sack. Er nahm einen aus dem Stapel und riss ihn auf.

Sehr geehrter Herr Schmidt,

Ich stimme vollkommen mit Ihnen überein. Es gibt definitiv eine beträchtliche Menge an Kritikpunkten, was die Struktur unseres Staatswesens angeht. Wenn möglich, so würde ich mir für meinen persönlichen Staat gerne wünschen, dass jede Person bereits in der Grundschule die griechischen Klassiker studieren muss. Die Probleme unserer Gesellschaft entstehen aus mangelndem Kultur- und Kunstsinn. Die Kulturelle...

Mit gerunzelter Stirn griff Herr Schmidt nach den anderen Briefen und öffnete sie einen nach dem anderen.

Ey Alter, voll geil deine Website!

Wenn’s nach mir ging, würden alle Lerer im Knast landen! keine Schuhle meer, dann wären wir alle bässer dran! Wih können ich und meine Kumpels...

Sehr geehrter Herr Schmidt,

unsere Firma, die auf internationales Recht spezialisiert ist, bietet Ihnen und Ihrem Partner Herr Braun ihre Dienste bei der Beratung der Privatbürger, die Sie zu Staatsoberhäuptern zu machen gedenken an. Entsprechende, weltweit anerkennbare Verfassungen zu kreieren wäre für Experten wie uns kein Problem und...

„BRAUN!“

Sträflinge, die in den anderen Sesseln vor sich hin dösten blickten ihn verärgert an. Herr Schmidt sprang mit einer Energie auf, die er ansonsten nur zur Öffnungszeit der nächstgelegenen Kneipe zur Schau stellte, und rannte in den Nebenraum.

Der ehemalige Lehrer saß wie gewöhnlich vor dem Computer. Seine Augen waren starr auf den Bildschirm gerichtet. Ein seltsames Lächeln lag auf seinen Lippen. Er blickte erst auf, als Schmidt ihm den Stapel Briefe auf die Tastatur klatschte.

„Hier! Kannst du mir erklären, was das ist?“

„Nun... einerseits ja, andererseits auch wieder nein. Es ist etwas schwer in Worte zu fassen.“

„Versuch es einfach.“

„Nun, schau dir am besten das hier an.“

Herr Schmidt blickte auf den Computerbildschirm, der eine Internetseite zeigte. Als erstes fiel ihm die Weltkugel auf. Sie sah nach einer politischen Weltkarte aus, aber sie war falsch, grundlegend falsch. Sie wirkte, als hätte sich ein hyperaktiver zweijähriger mit einem Malkasten an der politischen Landschaft der Welt ausgetobt. Es gab hunderte von Staaten, die er bisher noch nie gesehen hatten, und die meisten die er kannte waren verschwunden. Überall steckten Fahnen mit den absonderlichsten Zeichen drauf.

Als nächstes sah Herr Schmidt die Überschrift:

DIE STAATS-AG, Schmidt & Braun: Ihr eigener Staat – nur 29,99 € das Stück

Der Text darunter verkündete:

Genervt von der Steuererklärung oder dem letzten Knöllchen? Angewidert vom neuesten Polit-Skandal? Das alles hat jetzt ein Ende! Schmidt & Braun machen es möglich: Lösen Sie sich von den Fesseln der Politiker und Beamten. Gründen Sie Ihren eigenen Staat. Schon morgen können Sie Kanzler, Präsident oder König sein.

Rechts war eine Liste mit Menüpunkten zum anklicken:

In drei einfachen Schritten zum eigenen Staat

Verfassungsvorlagen

Preisliste & Kontakte

Forum der Self-Made Präsidenten und Könige

Impressum

Schmidt wandte dem schüchtern lächelnden Braun sein ausdrucksloses Gesicht zu.

„Was“, fragte er mit sehr ruhiger Stimme, „ist das, wenn ich fragen darf?“

Die Staats-AGWo Geschichten leben. Entdecke jetzt