Kapitel 20

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Der Notenschluss für die Zwölftklässler war schon gewesen und Levi hatte seine schriftliche Mitteilung bekommen, auf der die Noten für das zweite Halbjahr der Zwölften standen. Ich selbst war noch mitten im Unterricht und gerade fing wieder die Klausurenphase an. Auf die Bioklausur hatte ich mich besonders gut vorbereitet, weil es sich wie Verrat anfühlen würde, wenn ich da eine schlechte Note schreiben würde. Ich war es Armin schuldig mich da für zwei wichtige Jahre zusammenzureißen. Das hatte ich bisher auch ganz gut hingekriegt.

Jetzt, da Levi nur noch in den Unterricht der Fächer ging, wo er Abitur machte, hatte er sehr viel Zeit, und hatte sich entschieden seinen Geigenunterricht wieder aufzunehmen. Diesen hatte er aus Zeitgründen am Anfang der elften Klasse abgebrochen, mit dem Vorhaben ihn irgendwann wieder anzufangen. Dieser Zeitpunkt war anscheinend gekommen, und jetzt fuhr er immer am Montagabend mit dem Auto in das naheliegende Dorf, wo ein in Rente gegangener Musiklehrer wohnte, der ihm schwarz Unterricht gab.

Während dieser Zeit befand ich mich entweder bei mir zuhause, oder saß bei Levi auf dem Sofa und las eine Lektüre für die Schule, machte Hausaufgaben, oder sonst noch etwas. Levi hatte mir einen Schlüssel zu seinem Haus gegeben, dessen Übergabe wir gebührend gefeiert hatten. Das Problem meiner Ungeduld wurde dadurch natürlich nicht gelöst, Horrorfilme konnten mich auch nur marginal von meiner Ungeduld ablenken.

Bei mir zuhause war es in letzter Zeit sehr ruhig geworden. Es war aber keine angenehme Ruhe, sondern ein angespanntes Schweigen zwischen den Bewohnern dieses Hauses. Seit ich ihr seltsames Gespräch belauscht hatte, hatte ich sie nicht mehr streiten gehört. So sehr mich das beruhigte, umso mehr verunsicherte mich das. Es war ein unerwarteter Bruch in der Beziehung zwischen meinen Eltern und auch ein unerwarteter Bruch in ihrer Beziehung zu mir. Ich konnte einfach nicht anders, als darauf zu warten, dass etwas passieren würde. Ich traute der Ruhe und Stille in diesem Haus nicht. Und wenn ich mich mal dort aufhielt, so machte ich es mir zum Ziel so schnell wie möglich wieder von dort fortzukommen. Bis jetzt hatte das auch gut geklappt, was mich im Endeffekt nur noch unruhiger machte. Mein Magen krampfte sich jedes Mal zusammen, wenn ich den leeren Küchentisch passierte, in der Hoffnung, Grisha möge nicht aus seinem Arbeitszimmer treten. Und er tat es auch nicht, wofür ich sehr dankbar war. Nicht, dass ich Grisha dankbar gewesen wäre, nein, eher meinem eigenen Glück.

Das letzte Mal, als ich bei mir zuhause gewesen war, oder das Haus, welches offiziell als solches eingetragen war, war am Freitag gewesen. Und das auch nur, weil mein Zeichenblock voll gewesen war. Nach der Schule hatten sich also meiner und Levis Weg getrennt, und ich hatte einen Abstecher zu mir nachhause gemacht.

Jetzt war es Montag nach der Schule. Levi hatte in etwa drei Stunden seinen Unterricht, und ich starrte auf besagten Block, während er für sein Abitur lernte. Ich sah ihm gerne dabei zu wie er lernte, weil ich gerne sein konzentriertes Gesicht sah. Er hatte sich nach der Schule einen meiner Pullis angezogen und jetzt konnte ich mich erst recht nicht von seinem Anblick abwenden. Er hatte sogar für einen kurzen Augenblick seine Zunge in seiner Konzentration herausgestreckt.

Ich schaute auf meinen leeren Zeichenblock, dann begann ich zu zeichnen. Die hochgestreckte Augenbraue, die eine Strähne, die dem Zopf entwichen war und ihm in die Augen hing, meinen Pulli, der ihm zu groß war und abartig über die Schultern hing. Ich malte auch seine Zunge, die ihm zwischen den weichen Lippen klemmte. Nach einer halben Stunde war ich schon fertig und musste mit Frustration und Bedauern feststellen, dass die Abbildung dem Original nicht annähernd glich. Es wirkte irgendwie falsch. Mit gekräuselter Stirn und einem unzufriedenen Schnauben riss ich das Stück Papier heraus und zerknüllte es dann.

Bei diesem Geräusch schaute Levi, den ich bedauerlicherweise aus seiner Konzentration gerissen hatte, auf und betrachtete neugierig das Stück Papier in meiner Hand.

CrowboyWhere stories live. Discover now